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# taz.de -- taz-Serie Protokolle der Überlebenden: Libyen war seine Chance
> Abu aus Nigeria wurde von der „MS Aquarius“ gerettet. Er erzählt von
> seiner Odyssee durch die Sahara – und warum er nicht in Libyen blieb.
Bild: Rettete den Flüchtling: die MS Aquarius von SOS Méditerranée
Meine Mutter weinte am Telefon: „Bitte geh nicht auf das Boot“. Ich hatte
keine Wahl. Ich konnte nicht zurück.
Ich hatte schon oft von Libyen gehört. Die Arbeit dort sei gut bezahlt. Ich
wollte eigentlich Chemie studieren, aber seit dem Tod meines Vaters sind
wir arm. Libyen war meine Chance.
Mir gelang es, meine Mutter zu überzeugen, mir Geld zu leihen. Ich machte
mich über Mali nach Niger auf. Das war genau vor einem Jahr und drei Tagen.
Gleich nach der Ankunft in Agadez wurde ich von einem Gambier angesprochen,
ob ich nach Libyen weiterreisen wolle.
Am Abend der Abfahrt wurden wir auf einen staubigen Hof geführt. Dort
standen zwölf Toyota Pick-ups. Vorne die Fahrerkabine, hinten die offene
Ladefläche von etwa 4 Quadratmetern. Ich erschrak und fragte, ob wir
wirklich in diesen Autos die Wüste durchqueren würden. „Halt's Maul!“ wur…
ich angeschrien. „Bezahlt hast du schon. Willst du hier bleiben?“
Mit 26 Leuten auf der Ladefläche in einem Konvoi von 12 Autos fuhren wir
mit der Warnung los: „Auch wenn einer runterfällt, wir halten nicht an!“
Am vierten oder fünften Tag müssen wir uns verfahren haben. Vom Konvoi war
nichts mehr zu sehen. Am nächsten Tag war der letzte Benzinkanister
verbraucht und wir waren gestrandet. Ein Fahrer sagte, wir sollten beten.
Viele weinten. Andere hatten keine Kraft mehr, sie starrten nur noch in die
Finsternis. Wie es das Schicksal so will, wurden wir gerettet. Für ein
weiteres Auto kam jede Hilfe zu spät. Es wurde nur noch das Gepäck
geborgen.
In Sabah angekommen wurden wir in Lagerhäusern, die alle „Gettos“ nennen,
untergebracht. Diese geheimen Raststätten ziehen sich entlang der
Schleuserrouten durch die Wüste. Ich weiß von mindestens einer gambischen,
mehreren malischen und nigerianischen Gruppen. Unseres war in libyscher
Hand. Kaum angekommen, wurden wir an die Wand gestellt und geschlagen. Uns
wurde gesagt: „Ihr seid illegal in Libyen und ihr müsst zahlen.“
Unsere Sachen wurden durchsucht, alles von Wert beschlagnahmt. Man nahm mir
mein ganzes Geld ab. Ich wurde in einen Raum gezerrt und an die Wand
gekettet. „Ruf deine Familie an. Die sollen uns 3.000 Dinar überweisen“,
wurde ich angeschrien. Sie glaubten mir nicht, dass meine Familie arm sei,
und verpassten mir Stromschläge. Ich schrie, erklärte, bettelte. Irgendwann
gaben sie auf und warfen mich auf die Straße.
Ich schlug mich mit Gelegenheitsjobs bis nach Misrata durch. Eines Tages
wurde ich von der Polizei nach meinen Papieren gefragt. Ich hatte keine und
wurde eingesperrt. Es war die Hölle! Wir wurden in Schiffscontainern
zusammengepfercht. Wir waren so viele, dass man nur zwischen den Beinen des
Hintermannes, mit dem Gesicht auf dem Rücken des Vordermannes schlafen
konnte. Nach mehreren Wochen schaffte ich es, meinen ehemaligen Chef
anzurufen. Er kam und kaufte mich frei. Dafür musste ich zwei Monate
umsonst bei ihm arbeiten. Dann schmiss er mich raus.
In Tripoli schlug ich mich mit Gelegenheitsjobs durch. Ich fühlte mich
leer, alle Hoffnung war erloschen. Für die meisten Libyer sind wir
Afrikaner wie Drogen, ein schnelles Geschäft. Ich wusste, der einzige Weg
raus geht über das Meer.
Von einem Schmuggler erfuhr ich, dass die Überfahrt mindestens 1.000 Dinar
kostet. Ich hatte nur 505. Er bekam Mitleid und versprach mir einen Platz
auf dem nächsten Boot. An dem Abend rief ich meine Mutter an, die mich
anflehte, nicht zu gehen. Am Strand gab ich dem Schmuggler meine 505
Dinars. Er nahm sie und gab mir fünf zurück. „Behalte sie als Erinnerung“,
sagte er.
Mit knapp 120 anderen fuhren wir los. In den frühen Morgenstunden wurden
wir von der „Aquarius“ gerettet. Ich freue mich, meine Mutter anzurufen und
ihr zu sagen: „Dein Sohn lebt.“ Den Fünf-Dinar-Schein habe ich noch in der
Tasche.
Dieser Bericht wurde im April von der Hilfsorganisation SOS Méditerranée an
Bord des Schiffes „MS Aquarius“ protokolliert.
Übersetzung: Christian Jakob.
Weitere „Protokolle der Überlebenden“: [1][taz.de/SOS].
18 Apr 2017
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Christian Jakob
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