| # taz.de -- 1. FC Union Berlin vor dem Aufstieg: „Wir aus dem Osten“ | |
| > Mit dem Aufstieg von Union Berlin könnte die Bundesliga um ganz besondere | |
| > Facetten erweitert werden: klein, regional, ostalgisch und glaubwürdig. | |
| Bild: Der Fan-Block von Union Berlin in der Alten Försterei | |
| Berlin taz | Dirk Zingler erzählt die Geschichte nicht zum ersten Mal. Der | |
| Präsident von Union Berlin sitzt beim „Fußballsalon“ im Deutschen Theater | |
| in Berlin und hebt an, er wolle etwas sagen, wovon er „ganz gerne“ | |
| berichtet. Vor ihm hockt dezent Union-gekleidetes Publikum, die spätere | |
| Fragerunde enthüllt viele Dauerkarteninhaber; der Präsident hat Heimspiel | |
| und weiß es. Und so erzählt Dirk Zingler von seinem Sohn. Der sei eines | |
| Tages tatsächlich mit BVB-Schal zur Schule gegangen. | |
| Ein generationsbedingtes Sakrileg, aber Vater Zingler hat wenig | |
| Verständnis: „Wieso tust du das? Du hast doch nichts zu tun mit Dortmund.“ | |
| Ein paar Tage später – Zuneigung ist ja doch einigermaßen flexibel in | |
| diesem Alter – geht der Sohn mit Union-Schal zur Schule. Dem Familienschal, | |
| den die Oma gestrickt hat, als Zingler senior sechs oder sieben Jahre alt | |
| ist und selbst als Fan zu den Köpenickern geht. Mit einem Schal, der in | |
| keinem Zingler-Porträt fehlen darf. | |
| Dass der Sohn sich bequatschen lässt, ist nicht besonders überraschend, | |
| ebenso wenig wie die Reaktion des Vaters: Einem abtrünnigen Nachfahren | |
| hätten wohl auch ein Hans-Joachim Watzke oder ein Uli Hoeneß die Leviten | |
| gelesen. Aber was an Zinglers Anekdote interessant ist, ist die Begründung: | |
| Du hast doch nichts zu tun mit Dortmund! | |
| Dirk Zingler, einer der wenigen Präsidenten im deutschen Profifußball, der | |
| aus der Fankurve kommt, findet die Liebe zu einem Klub in einer fremden | |
| Stadt irritierend. „Fußball ist ein total regionales Geschäft“, sagt er. | |
| „Die Gebietsherkunft gehört dazu.“ Ist Union immer noch ein Ostverein? | |
| „Natürlich kommen wir aus dem Osten Berlins.“ | |
| ## „Schulter an Schulter mit Eisern Union“ | |
| Stadion an der Alten Försterei, Heimat des Zweitligisten, der vielleicht | |
| bald Erstligist sein könnte. „Wir aus dem Osten gehen immer nach vorn, | |
| Schulter an Schulter mit Eisern Union“, singt Nina Hagen. | |
| Unten an den Buden hinter dem Eingang gibt es Bratwurst statt McDonald’s, | |
| es regiert Backsteinflair, und in der Halbzeitpause wird Stadionsprecher | |
| Christian Arbeit wie immer verstorbener Fans gedenken. Man fühlt sich | |
| schnell vertraut hier. Wäre Union eine Person, die sich für einen Zeichner | |
| zum Porträt hinsetzt, wäre sie ein sehr dankbares Objekt: markante Züge, | |
| einprägsames Gesicht. Gern porträtiert als kleiner, rebellischer Klub mit | |
| Zusammenhalt und Ursprünglichkeit, das St. Pauli des Ostens. | |
| Ein Verein, der Erwartungen nicht enttäuscht, weil er von Angesicht zu | |
| Angesicht so aussieht, wie man ihn sich vorstellt. Union ist bemerkenswert | |
| authentisch geblieben. Und vielleicht auch ein wenig undankbar zu | |
| porträtieren, weil die Klischees so verdächtig leicht von der Hand gehen. | |
| Kein Klub der großen Brüche, sondern ein perfekter Stichwortgeber seiner | |
| eigenen Marketinggeschichte. | |
| ## Züge einer Sekte | |
| Wer öfter in die Alte Försterei geht, begegnet einem Verein, der auch auf | |
| den zweiten und dritten Blick mit sich im Reinen scheint. Die Geschichte | |
| vom kleinen gallischen Köpenick gegen den Rest der Welt ist zwar eine gute | |
| PR-Nummer, aber sie steht durchaus in Einklang mit der Unioner Gefühlswelt. | |
| Die Gegner außen waren immer wichtiger als die Gegner innen. Die Außenwelt | |
| hat keine so große Bedeutung. Der Klub und sein Umfeld sind selbstfixiert. | |
| „Union hat Züge einer Sekte“, sagt Zingler im Fußballsalon. Und niemand | |
| glaubt an den eigenen Kosmos so sehr wie die Union-Fans selbst. | |
| Dieser Verein musste sich nie zum Büttel einer mühsam erdachten Story | |
| machen, hat nie wie Lokalrivale Hertha krampfhaft nach einer Identität | |
| gesucht. Die Geschichte schrieb sich quasi von selbst. Und es ist im Grunde | |
| vor allem: eine Erzählung von Heimat. | |
| In einem Fußballgeschäft, in der sich die meisten Vereine über eine | |
| Philosophie à la „Echte Liebe“ internationalisieren, geht Union den | |
| umgekehrten Weg: Regionalisierung. Es ist auch ein Versprechen von | |
| Schöneweide statt China, von Nähe statt globalisierter Ferne. Und eines, | |
| das verfängt. | |
| Wenn Nina Hagen röhrt, stehen sie alle, auch die Haupttribüne: „Wer lässt | |
| Ball und Gegner laufen? Wer lässt sich nicht vom Westen kaufen?“ Das mit | |
| dem Westen kommt immer noch gut an, obwohl Union in der Zweiten Liga längst | |
| keinen Ausverkauf mehr nach Bochum oder Bielefeld fürchten muss. Aber wenig | |
| hat die DNA des Klubs so geprägt wie die Herkunft aus dem Arbeiterkiez | |
| Köpenick. Zu DDR-Zeiten Außenseiter gegen den Stasiklub BFC Dynamo, später | |
| Außenseiter gegen die reichen Wessis: Eine kleine Familie, die sich gegen | |
| die Großen zur Wehr setzt, das ist die Union-Erzählung. | |
| ## Flache Hierachien | |
| Eine Erzählung, die regional angelegt ist und überregional funktioniert. | |
| Nicht in erster Linie die Bratwürste oder die Stehplätze, sondern die | |
| Jonglage aus Nähe und Wachstum ist das, was anderen Vereinen Vorbild sein | |
| könnte. Union Berlin will den Großsponsor mitnehmen und die Ultras und auch | |
| die Kutten in der Eckkneipe, will ein Verein mit flachen Hierarchien sein, | |
| der das Ursprüngliche bewahrt, aber auch Bundesliga spielen. Kann das | |
| funktionieren? | |
| Bislang funktioniert es. Und es weckt Sehnsüchte in deutschen Fankurven. | |
| Wenn dieser sportliche Nobody in die Bundesliga aufsteigen sollte, muss | |
| ihn, im Gegensatz zu FC Ingolstadt oder SC Paderborn, niemand mehr | |
| vorstellen. Vieles ist längst deutsche Fußballfolklore: Wie rund 2.000 | |
| Union-Fans in wochenlanger Freiwilligenarbeit beim Stadionbau halfen; wie | |
| die Anhänger mit der Aktion „Bluten für Union“ dem strauchelnden Verein m… | |
| Blutspenden die Lizenz ermöglichten; das jährliche Weihnachtssingen im | |
| Stadion. | |
| „Union ist unverwechselbar“, sagt Jan Dreisbach. Er ist einer der Autoren | |
| der Fußballstudie der TU Braunschweig, die jährlich die Bekanntheit und | |
| Beliebtheit deutscher Profiklubs untersucht. Nach der Saison 2015/16 stand | |
| Union Berlin deutschlandweit auf Platz sieben der am positivsten gesehenen | |
| Vereine – vor Bundesligisten wie Schalke und Bremen und Lichtjahre vor | |
| Hertha BSC. | |
| ## Eine kleine Familie | |
| Willst du gelten, mach dich selten: Die Abgrenzung nach außen hat den | |
| Verein zum Sehnsuchtsort werden lassen. Union suggeriert, man wolle nicht | |
| für jeden sein, und jeder will hin. Sportlicher Erfolg scheint nur | |
| untergeordnet bedeutend für Anziehungskraft. „Wichtig ist ein klares Image | |
| mit unverwechselbaren Werten. Bei Union entsteht der Eindruck einer kleinen | |
| Familie, einer Gemeinschaft.“ | |
| Absurderweise hat gerade die Abschottung den Klub zur internationalen Marke | |
| gemacht. Dabei sah es über Jahre nicht danach aus. Denn lange Zeit waren | |
| die Berliner vor allem ein Klub der Krisen und Skandale. Durch die | |
| Neunziger- und Nullerjahre zog sich eine Kette von Missmanagement, | |
| Beinahe-Pleiten und Beinahe-Untergängen. 1998 rettete der Medienunternehmer | |
| Michael Kölmel den Verein mit einem Darlehen von 15 Millionen D-Mark vor | |
| der Insolvenz; ein paar Jahre später war man zwar im DFB-Pokalfinale und im | |
| Europapokal gelandet, stand aber nach großer Shopping-Euphorie schon wieder | |
| am Abgrund. | |
| Mittlerweile hat sich Union wirtschaftlich stabilisiert, doch eine gewisse | |
| Skepsis gegenüber zu schnellem Erfolg ist den Anhängern geblieben. Es ist | |
| bezeichnend für das Selbstverständnis, dass in dieser überraschend | |
| erfolgreichen Saison die Hauptdiskussion nicht darum ging, wie man | |
| aufsteigen könnte, sondern ob man überhaupt aufsteigen sollte. Sorgen vor | |
| Überfremdung durch Modefans, vor Verwässerung der kleinen, heilen | |
| Union-Welt. Und allgemeine Ungläubigkeit, dass ein Aufstieg überhaupt | |
| möglich wäre. | |
| ## Kellers Mission | |
| Dass der Aufstieg nun durchaus möglich scheint, hat der Verein zu großen | |
| Stücken Jens Keller zu verdanken. Der frühere Schalke-Coach hat aus einem | |
| Team, das sich in der Rolle des rennenden, kämpfenden Underdogs gemütlich | |
| eingerichtet hatte, eine Mannschaft geformt, die gestaltet, statt zu | |
| reagieren. Er hat Union behutsam genötigt, sich zu verändern. Vielleicht | |
| brauchte es in diesem Biotop einen Fremden, um zu wachsen. Vor dem | |
| Spitzenspiel in Hannover, das sein Verein mit 0:2 verliert, sitzt Keller im | |
| Presseraum an der Alten Försterei und predigt Selbstbewusstsein. | |
| „Warum soll ich die Mannschaft bremsen? Wenn man bremst, wird man | |
| langsamer.“ Er will den Schwung mitnehmen, ahnt vielleicht, dass trotz der | |
| erfolgreichen Entwicklung viel zusammenkommen müsste, damit Union noch mal | |
| eine derartige Saison spielt. Denn auch, wenn Keller sagt, man habe „nicht | |
| den Druck wie Stuttgart oder Hannover“, ist der Druck natürlich längst da. | |
| Und er scheint Spuren zu hinterlassen. Nach dem Spiel gegen Hannover | |
| verlieren die Köpenicker auch das Heimspiel gegen Aue, rutschen auf den | |
| vierten Platz. „Meine Mannschaft hat Fehler gemacht, die ich so nicht | |
| kannte“, sagt Jens Keller nach der Partie. „Uns fehlt momentan ein bisschen | |
| die Leichtigkeit.“ | |
| Es gehört zur Ironie dieser letzten Saisonphase, dass just in dem Moment, | |
| in dem der Anhang begonnen hat, an den Aufstieg zu glauben, der Aufstieg | |
| durch die Finger rutschen könnte. Trotzdem würden sie das an der Alten | |
| Försterei wohl gelassener nehmen als bei der Konkurrenz in Hannover oder | |
| Stuttgart. Ein Verein, der sich über Nähe statt Erfolg erzählt, fürchtet | |
| den Verlust des Ersten mehr. | |
| Modefans aus dem Prenzlauer Berg sind in Köpenick eine größere Drohkulisse | |
| als ein weiteres Jahr Zweite Liga. Der Zulauf aber wird auch bei einem | |
| verpassten Aufstieg kommen. Man darf das als Kompliment sehen. | |
| 9 Apr 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Alina Schwermer | |
| ## TAGS | |
| Dirk Zingler | |
| Fußball | |
| Fußball-Bundesliga | |
| Union Berlin | |
| Köpenick | |
| Union Berlin | |
| Aufstieg | |
| Fußball-Bundesliga | |
| FC Union | |
| Hannover 96 | |
| FC Union | |
| Fußball-Bundesliga | |
| 50+1-Regel | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Kolumne Helden der Bewegung: Ein löslicher Fisch | |
| Das Spiel von Steven Skrzybski von Union Berlin ist moderne Romantik. Er | |
| ist kein Spieler, der einer Situation seinen Stempel aufdrückt. Er geht in | |
| ihr auf. | |
| Union Berlin nach dem Nicht-Aufstieg: Doch 'ne runde Sache – irgendwie | |
| Den Aufstieg in die 1. Liga hat Union Berlin verpasst. Zum Saisonabschluss | |
| in Fürth fuhren trotzdem jede Menge Fans. Unser Autor hat sie begleitet. | |
| Fußballclub Hertha BSC Berlin: Fleißbiene vor Abflug nach Europa | |
| Vor zwei Jahren war Hertha Abstiegskandidat in der Bundesliga, jetzt ist | |
| die Qualifikation für die Europa League greifbar. Wie hat das Team das | |
| geschafft? | |
| Fan-Interview zum FC Union: „Fußball guckt man im Stehen“ | |
| André Rolle hat sein erstes Union-Spiel vor 50 Jahren erlebt. Im Falle | |
| eines Aufstiegs befürchtet der 60-Jährige, dass Union etwas von seiner | |
| Andersartigkeit verlieren könnte. | |
| Neuer Trainer erfrischt Hannover 96: Mit breiter Brust | |
| Trainer André Breitenreiter hat in seinem ersten Heimspiel mit Hannover 96 | |
| viel richtig gemacht. Und die Mannschaft freut sich über neue Impulse | |
| Union Berlin vor dem Aufstieg: Erste Liga – ach du Scheiße! | |
| Der 1. FC Union steht vor dem Aufstieg in die 1. Bundesliga. Was bedeutet | |
| das für die Fans des Clubs, der sich als ewiger Underdog stilisiert? | |
| Fußball Bundesliga: Na wat denn nu? | |
| Der 1. FC Union könnte mit einem Sieg gegen Hannover 96 wieder in die | |
| Tabellenspitze vordringen. Ein paar abschweifende Gedanken zur | |
| Erstliga-Tauglichkeit. | |
| Die Bundesliga und die 50+1-Regel: Vereinsmeierei im Millionenbiz | |
| Fußball ist Geschäft, die Erstligisten arbeiten wie Wirtschaftsunternehmen. | |
| Doch viele Fans glauben noch an ihren Sport als Gemeinschaftsprojekt. |