# taz.de -- Türkei-Referendum in Berlin: Aus Trotz für Erdoğan | |
> Weil Deutschland gegen den Präsidenten sei, sind sie für ihn – so denken | |
> viele Türken in Berlin. Doch der Riss in der Community ist tief. | |
Bild: Vor dem türkischen Konsulat in Berlin warten WählerInnen, um ihre Stimm… | |
BERLIN taz | Der erste Tag im Jahr, an dem man ohne Jacke auskommt. | |
Menschen blinzeln vor den Cafés und Döner-Buden in die Sonne. Doch am | |
Kottbusser Tor ist nicht nur Frühling, sondern auch Tag zehn nach Beginn | |
der Wahlen. Knapp 100.000 Berliner mit türkischer Staatsbürgerschaft dürfen | |
sich am türkischen Verfassungsreferendum beteiligen, noch bis zum 9. April: | |
Das sind etwa 7 Prozent der 1.400.000 stimmberechtigten TürkInnen in ganz | |
Deutschland. | |
Evet oder Hayır. Ja oder Nein. | |
Es geht um die neue Verfassung in der Türkei. Eine Verfassung, die den | |
türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan mit viel Macht ausstatten | |
würde. Selbst die sozialdemokratische Partei des Republikgründers Atatürk, | |
CHP, die größte Oppositionspartei in der Türkei, spricht von einer | |
drohenden Ein-Mann-Diktatur. | |
Es geht aber noch um mehr: Die Wahlbeteiligung der in Deutschland lebenden | |
türkischen StaatsbürgerInnen ist hoch, in den ersten Tagen war sie „gleich | |
dreifach höher als bei den türkischen Parlamentswahlen Ende 2015“, so der | |
Vize-Vorsitzende der Berliner CHP, Ekrem Özdemir. Die Antennen der Berliner | |
Türken und Türkeistämmigen sind ausgefahren. Die Leute wirken alarmiert. | |
Und: Erdoğan ist ein geschickter Spalter. Für kaum jemanden mehr scheint es | |
noch ein irgendwo Dazwischen zu geben. | |
## Denunziationen und Beschimpfungen | |
Es geht ein Riss durch die Berliner Community. Viele fürchten sich zu | |
sprechen. Kaum einer will seinen Namen in der Zeitung lesen. | |
Die, die gegen Erdoğan sind, berichten an diesem schönen Frühlingstag am | |
Kotti von Hassmails, von Beschimpfungen als Vaterlandsverräter, von alten | |
Bekannten, die draußen den Blick senken oder die Straßenseite wechseln, von | |
Ehen, die zu zerbrechen drohen, von Denunziationen auf Facebook und | |
Twitter. | |
Nicht einmal ein paar ältere Frauen aus Spandau, die sich im Namen „hart | |
erkämpfter demokratischer Rechte, auch Frauenrechte“ klar zu einem Nein | |
bekennen, wollen ihre Namen nennen. Sie oder ihre Familien könnten bei der | |
nächsten Türkei-Reise Probleme bekommen, fürchten sie. | |
Und wie ist es mit den anderen, mit jenen, die für Erdoğan sind? Etwa die | |
Hälfte der Türken und Türkeistämmigen verehren laut Schätzungen Erdoğan �… | |
auch in der zweiten und dritten Einwanderinnengeneration. Und das, obwohl | |
er seine Landsleute in Deutschland gegeneinander und gegen die Deutschen | |
aufhetzt – Deutsche also, wie sie inzwischen längst selbst welche sind, | |
zumindest irgendwie. | |
## „Er ist unser Präsident“ | |
Vor einem Imbiss sitzen drei Mädchen, 17, 18 und 19 Jahre alt. Eine trägt | |
ihr Kopftuch auf konventionelle Art, eine in Piraten-Manier, die dritte, | |
ohne Kopftuch, betont ihre Augen, die so tief sind wie Waldseen, dick mit | |
Kajal. In der Zeitung wollen sie anders heißen als in Wirklichkeit, denn | |
sie kennen weder diese noch eine andere deutsche Zeitung, stehen den | |
deutschen Medien trotzdem misstrauisch gegenüber. Dennoch nehmen sie sich | |
ein Herz und laden zu einem Glas Tee. Nur preisgeben wollen sie zunächst | |
wenig. | |
„Wir halten uns da raus“, sagen sie, wissen kaum, worüber die türkischen | |
Staatsbürger, die ihre Großeltern noch sind, da gerade abstimmen können. | |
Dann aber bricht es doch aus ihnen heraus. Vor zehn Jahren, sagen sie, da | |
habe man „zu Hause“ noch im Supermarkt für ein halbes Brot anstehen müsse… | |
Erdoğan habe das geändert. Er habe in der Türkei Autobahnen gebaut. Und | |
Brücken. Und Flughäfen. „Er ist unser Präsident“, sagen sie. Sie würden | |
seine Verfassung wählen, wenn sie könnten, doch leider haben sie nur die | |
deutsche Staatsbürgerschaft. | |
Diese Mädchen sind eloquent und neugierig, nehmen kein Blatt vor den Mund. | |
Und trotzdem heißen sie es gut, wenn in der Türkei die Meinungsfreiheit | |
beschnitten wird. Sie kennen den Fall Deniz Yücel, halten den Journalisten | |
tatsächlich für einen Terrorhelfer. Sie finden es richtig, Menschen den | |
Mund zu verbieten, wenn sie nicht genug Respekt zeigen. Sie empfinden | |
Erdoğan als starken Mann, der nur Gutes will für sein Land. Und sie denken, | |
die Deutschen sind nicht nur einfach kritisch, sondern überheblich und | |
abwertend. „Ihr wollt bloß nicht, dass die Türkei groß rauskommt“, das i… | |
die Antwort von der mit den großen Augen, die Gül heißen will. | |
Sie kennen die Erzählungen der Großeltern, die als Gastarbeiter kamen. Wie | |
Deutschland sie wieder loswerden wollte, als es sie nicht mehr brauchte. | |
Wie es ihnen Rückkehrprämien anbot, statt ihnen die Hand zu reichen. Und | |
was ist mit ihnen selbst? Fühlen sie sich von irgendwem kleingehalten? | |
„Nein“, lachen sie, „eher nicht.“ Der Vater von der, die Mina heißen w… | |
ist Koch, sie macht gerade Abitur. Der Vater von der, die Gül heißen will, | |
ist Geschäftsmann, auch sie will Abitur machen. Alle drei haben große | |
Pläne, was danach kommen soll. | |
## Kalter Krieg | |
Tatsächlich herrscht nicht nur kalter Krieg zwischen den Berliner | |
TürkInnen, sondern auch zwischen den hiesigen Ablegern türkischer Parteien: | |
Während die Erdoğan-Partei AKP ihre Anhänger während des gesamten | |
Referendums viermal täglich von vier verschiedenen Orten in der Stadt | |
abholt und zum Konsulat fährt und per Briefpost Werbung für die neue | |
Verfassung an die Berliner TürkInnen schickt, versuchen andere, ihre | |
Landsleute zu einem „Nein“ zu mobilisieren. | |
Die CHP verteilte Flyer auf Märkten oder warf welche in Briefkästen ein, | |
organisierte Infoveranstaltungen und einen Autokorso. Die Alevitische | |
Gemeinde lud Ende Februar zu einer gut besuchten Veranstaltung unter dem | |
Motto „Berlin sagt Nein“ an der Technischen Universität. | |
Beide bieten wie die AKP Shuttleservice zum Konsulat an. Und die linke | |
kurdische Partei HDP, die noch am Samstag vor den Wahlen eine Demo mit mehr | |
als 300 Personen auf die Beine stellte, protestierte vor dem Konsulat gegen | |
die Benachteiligung der HDP bei den Wahlen. Denn Mitglieder der HDP sind | |
anders als die anderen drei großen Parteien AKP, CHP und MHP nicht zu den | |
Wahlausschüssen zugelassen. Sie können nur Wahlbeobachter ohne | |
Entscheidungsbefugnisse stellen. | |
## TBB bleibt neutral | |
Neutral bleiben wollen nur wenige Berliner Verbände, etwa der | |
Moscheenverband Ditib und die Türkische Gemeinde Berlin – anders als die | |
bundesweite Türkische Gemeinde Deutschland mit ihren Nein-Kampagnen. Der | |
Türkische Bund Berlin-Brandenburg (TBB) gibt sich schon aus Prinzip | |
neutral: „Wir mischen uns nicht in die Türkei-Politik ein“, sagt eine | |
Sprecherin. | |
Nicht einmal ganz neun Monate ist es her, dass in der Türkei ein | |
Militärputsch scheiterte, der das Ziel hatte, Erdoğan zu stürzen. Damals | |
äußerten sich viele Passanten, Restaurantbesucher und Ladenbesitzer am | |
Kotti noch recht belustigt und hoffnungsvoll. | |
Nun, so scheint es, ist die Stimmung gekippt. Es ist ja auch viel geschehen | |
seitdem. Erdoğan hat durchgefegt. 40.000 Festnahmen, 80.000 Suspendierungen | |
im öffentlichen Dienst. 4.262 Einrichtungen geschlossen, beschlagnahmt oder | |
an öffentliche Einrichtungen übertragen, darunter Schulen, Universitäten, | |
Stiftungen, Zeitungen, Verlage, Gewerkschaften. Es herrscht Eiszeit in der | |
Türkei. | |
Der Tourismus bricht ein, viele europäische Länder gehen auf | |
Konfrontationskurs. Zuletzt sagten Deutschland und die Niederlande | |
Wahlkampfauftritte von Ministern der AKP-Regierung ab, Erdoğan bemühte | |
Nazi-Vergleiche. Gerade untersuchen deutsche Behörden das Gerücht, | |
türkische Geheimdienste würden im großen Stil Anhänger der Gülen-Bewegung | |
in Deutschland ausspionieren. | |
## Weil Deutschland gegen ihn ist | |
„Wir sind nicht dumm, wir sind auch nicht blind“, sagt zu alldem ein | |
türkischer Taxifahrer, der mit Vornamen Murat heißt und 40 Jahre alt ist. | |
Er hat sich vorgenommen, noch in dieser Woche wählen zu gehen. Er wird für | |
die Verfassungsänderung stimmen. Für ihn ist Erdoğan ein Held. Ein Mann, | |
der vor keinem Angst hat, der endlich mal mit der Faust auf den Tisch | |
schlägt. Ein Kümmerer, der dem Osmanischen Reich wieder zu seiner alten | |
Größe verhelfen will. | |
Und die Deutschen? „Warum mischt ihr euch nicht mehr bei Putin ein? Warum | |
nicht mehr in Italien, in Saudi-Arabien?“, fragt er. „Für mich ist das ein | |
gutes Zeichen. Denn für euch sind nur die starken Gegner interessant.“ | |
„Wir sind für Erdoğan, weil Deutschland gegen Erdoğan ist“: Dieses Argum… | |
hört man immer wieder dieser Tage am Kottbusser Damm. Selbst von solchen, | |
die nicht ganz so überzeugt sind. Ein Finanzberater in den Vierzigern zum | |
Beispiel. Er war zuerst unentschlossen. Dann aber haben ihn „die | |
Hetzkampagnen in Europa“ zu einem Ja bewegt. | |
Ein anderer, ebenfalls in den Vierzigern, überlegt sogar, in die Türkei | |
auszuwandern. Er sei vom Türkei-Bashing in letzter Zeit bitter enttäuscht. | |
Noch ein Geschäftsmann. Er will in der Zeitung mit seinem Vornamen Atilla | |
genannt werden. Er trägt ein elegantes Hemd in leuchtendem Blau, ist etwa | |
so alt wie Taxifahrer Murat. „Von wegen Brücken“, grinst er. | |
Erdoğan habe die Brücken auf Pump gebaut. Er habe den Bauherren große | |
Zahlen von Autos versprochen, die Maut in die Kassen spülen werden. Die | |
seien aber ausgeblieben. Nun müsse er die fehlende Maut aus Steuergeldern | |
begleichen. Was die Leute nicht sehen: Erdoğan hat keine Arbeitsplätze | |
geschaffen. Der Tourismus ist nach wie vor eine der Haupteinnahmequellen. | |
## „Wir sind Aleviten“ | |
Anders als Taxifahrer Murat ist Atilla schon lange deutscher Staatsbürger. | |
Wie Murat kam auch er in einem Alter nach Deutschland, in dem Kinder | |
Probleme haben können, wenn sie brutal verpflanzt werden. Woran liegt es, | |
dass er sich trotzdem besser aufgehoben zu fühlen scheint in der deutschen | |
Normalität als andere? „Wir sind Aleviten“, erklärt Atilla. „Aleviten s… | |
in der Türkei nicht gerade beliebt.“ Vielleicht hat Atilla recht. | |
Vielleicht liegt es nicht nur am verkorksten Verhältnis Deutschlands zu | |
seinen Einwanderern, dass sich viele der deutschen Türken derzeit so | |
hingezogen fühlen zu Erdoğan. | |
Atillas kritische Haltung ist hausgemacht: Seine Eltern haben schon deshalb | |
den Kindern ein gebrochenes Verhältnis zur Türkei weitergegeben, weil sie | |
Aleviten waren. Doch nicht nur Aleviten stehen der neuen Verfassung | |
kritisch gegenüber. Die Debatten vor dem Referendum haben erstaunliche | |
Koalitionen zwischen den Ja- und Nein-Lagern hervorgebracht. Auch Teile der | |
rechtsextremen Graue-Wölfe-Partei MHP sprechen sich anders als ihr | |
Vorsitzender Devlet Bahçeli gegen eine Verfassungsänderung aus. | |
Auch Atilla sieht hin und wieder Fragezeichen in den Augen selbst der | |
eingefleischtesten Erdoğan-Fans. „Sie fragen sich, was Erdoğan denn noch | |
alles will“, sagt er. | |
5 Apr 2017 | |
## AUTOREN | |
Susanne Messmer | |
Hülya Gürler | |
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