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# taz.de -- Bayerisches Idyll im Umbruch: An der Schwelle zum Paradies
> Holzkirchen liegt südlich von München. Die Städter bringen steigende
> Mieten und andere Lebensentwürfe. Wie sich der Ort damit arrangiert.
Bild: In Holzkirchen trifft Landlust auf Brauchtum
Holzkirchen taz | Das HEP, das „Holzkirchner Einkaufsparadies“, liege nur
300 Meter vom Markt entfernt, in Gehdistanz also, leicht erreichbar für
jedermann, ein Paradies im Stadtzentrum. Sagt Rainer Scherbaum. Der ist
Investor und Betreiber des Ladenkonglomerats in Personalunion, und damit
womöglich nicht ganz unbefangen.
„300 Meter Luftlinie?“
„Natürlich Luftlinie, was denken Sie denn?“
Dass es einen Unterschied ausmacht, ob 300 oder 950 Meter zu gehen sind,
für die man flotten Schrittes eine Viertelstunde benötigt, was vielleicht
nicht jedermann möglich ist. „C-Lage“ sagt man dazu in Fachkreisen, und C
ist in diesem Zusammenhang nun mal nicht so gut wie A oder B. Das weiß
natürlich auch Rainer Scherbaum. Womöglich braust er deshalb auf: „Fragen
Sie mich jetzt was anderes!“
„Was soll ich Sie denn fragen?“
„Warum die Holzkirchner ihr Einkaufsparadies lieben!“
„Warum …“ Der Unternehmer gibt sich direkt selbst die Antwort. „Weil ich
Parkplätze habe, weil man sich bei mir gerne trifft und weil es herrlich
ist.“ Ein Paradies eben. Für jene, die gern bei Deichmann, Charles Vögele
oder Depot einkaufen.
Holzkirchen liegt etwa 30 Kilometer südlich von München und ist so etwas
wie das Einfallstor für Städter, die das Wochenende am Tegernsee oder in
den bayerischen Alpen verbringen wollen. Und den Bayernkitsch toll finden.
Entsprechend oft ballt sich rund um die 17.000-Seelen-Gemeinde der
Autoverkehr – bundesweit bekannt ist Holzkirchen vor allem durch die
Staumeldungen auf der A8 Richtung Salzburg. Und es staut sich immer gegen
zehn Uhr am Wochenende, denn dann ist der Münchner fertig mit seinem
Milchaufgeschäume.
## Gegen die Zeitenwende
Neben der stetig zunehmenden Verkehrsdichte bringt die Nähe zur
Landeshauptstadt den Holzkirchnern Probleme, die mit den Gegensätzen
zwischen Stadt und Umland zu tun haben – und mit dem, was Städter und
Landmenschen mit ihrer und der jeweils anderen Lebensform verbinden. Es
geht in Holzkirchen, wie an vielen anderen Orten in Deutschland, um
Tradition und Veränderung, um Perspektiven und deren Wechsel, ganz generell
also um Diskrepanzen und darum, ob diese in Einklang zu bringen überhaupt
möglich ist.
Holzkirchen ist dabei so etwas wie der Damm zwischen zwei Kulturen. Von
Norden branden München, die Weltstadt, ihre Vielfalt und Modernität und die
zunehmende Zahl ihrer Einwohner an die Marktgemeinde. Nach Holzkirchen
ziehen Menschen, die ihre Jobs und ihr Leben in der Großstadt nicht
aufgeben, ihre Kinder zugleich aber auf „dem Land“ großziehen wollen.
„Auskindern“ nennt das der ortsansässige Immobilienmakler, der natürlich
auch weiß, dass es „das Land“ in Holzkirchen gar nicht mehr gibt.
Südlich des Städtchens stemmt sich das bayerische Oberland tapfer gegen die
Zeitenwende. Bis heute ist dieses ein Hort des Brauchtums, des
Katholischen, des Konservativen. Hier sind die Menschen tief verwurzelt,
und sie fühlen sich verantwortlich für ihre Heimat.Holzkirchen muss diese
Gegensätze aushalten, weil sie dort, an der Schnittstelle der Landkreise
München und Miesbach, am heftigsten aufeinanderprallen.
Ein Großteil der Bürger wohnt in schmucken Einfamilienhäusern. Es gibt
neben dem staatlichen auch ein privates Gymnasium, und eine private
Grundschule bietet Ganztagsbetreuung. Für den Nachwuchs ist rundum gesorgt:
Waldorf- und Waldkindergarten, Montessori- und Musikschule, alles da, alles
vom Feinsten. Im Grunde also alles gut: Die neuen Holzkirchner gründen
Elterninitiativen, engagieren sich in den Vereinen und kümmern sich um die
Flüchtlinge vor Ort. Weil sie es sich leisten können.
## Sie kaufen teure Gummistiefel
Für die, die immer schon da waren, bedeuten die „Zuagroasten“ aber auch
eine konkrete Bedrohung: Der Wohnraum für Einheimische wird knapp und
teuer. Da nützt es auch nichts, dass einige Jungbauern auf dem neuen
Golfplatz Arbeit als „Greenkeeper“ finden. Oder dass sich die Städterinnen
Dirndl nähen lassen, für Mutter und Tochter im Partnerlook. Klar, sie
stellen ihre Pferde in die Reitställe und kaufen teure Gummistiefel. Aber
sie gingen sonntags eben nicht in die Kirche und grüßen täten sie auch
nicht, beschwert sich ein Mitglied des Trachtenvereins beim
Elternsprechtag. Es gibt also durchaus Risse im Paradies.
Im Ortszentrum hat die Metzgerei Kleeblatt seit Jahrzehnten ihren
Stammsitz. Acht Verkäuferinnen bedienen die Kundschaft, ihre Haare haben
sie mit einem Häubchen verziert. Eine sagt: „Die Frauen haben daheim zwar
die tollsten Induktionsküchen, aber ich muss ihnen erklären, was man aus
einem Suppenfleisch alles machen kann: Rindfleischsalat, Tellerfleisch mit
Kren, Gröstel, oder eine Suppeneinlage.“
Auch die Metzgerei muss mit der Zeit gehen, ihr Sortiment hat sie den
geänderten Bedürfnissen angepasst. „In den Privatschulen und Kindergärten
werden die Kinder auch mittags und nachmittags gut versorgt. Die Mütter
kochen also nicht mehr. Dafür kaufen am Wochenende die Väter nur das beste
Fleisch für ihren Weber-Grill.“
In Holzkirchen stehen die Induktionsküchen in Häusern, die 850.000 Euro und
mehr kosten, für weniger gibt es kaum etwas. Für manche Anzeigen in der
Tageszeitung haben die Immobilienmakler nur ein Schmunzeln übrig: „Junges
Paar sucht altes Bauernhaus, gerne zum Renovieren.“ Rund um Holzkirchen
kosten auch abbruchreife Höfe noch Millionen.
## Veganes Essen unterm Hirschgeweih
Der Wirt vom Oberbräu, Manfred Pabst, sucht seit Langem eine
Zweizimmerwohnung für die Tochter – vergeblich. Denn Zündkerzen- und
Pharmakonzerne suchen auch. „Die Firmen wie Hexal und Bosch, die sich im
Industriegebiet niedergelassen haben, mieten die kleinen Wohnungen zu
Höchstpreisen an.“ Das Oberbräu ist eine stattliche Wirtschaft am
Marktplatz. Vor dem Haus donnert der Verkehr, denn Holzkirchen hat statt
einer Fußgängerzone eine Hauptverkehrsstraße im Ortskern.
Die Wirtsstube ist renoviert. Die Handschrift einer Expertin für Interieur,
die offenbar viel Zeit mit Zeitschriften wie Living on the Country Site
verbrachte, ist zu erkennen: samtige Kissen mit alpenländischen Motiven,
graue Wände, weißes Holz. In einem Raum hängen zwei stattliche
Hirschgeweihe. „Wir haben hier viele Gäste von Hexal. Einmal musste ich ein
Geweih abhängen und über dem nächsten Tisch anbringen – die wollen halt
alle unter den Geweihen hocken.“
Früher trafen sich im Oberbräu fünf oder sechs Stammtische. Heute gibt es
nur noch sieben Männer, die regelmäßig kommen. „Schweinsbraten gibt es
schon noch, aber ich verkaufe jetzt über 35 Prozent vegetarische und vegane
Gerichte“, sagt der Wirt. Seine blauen Augen leuchten unter dem gut
frisierten, grau melierten Haar. Er könnte bessere Geschäfte machen, aber
er finde nicht genug Personal.
## Die Jugend geht ins Einkaufsparadies
Eine Viertelstunde mit dem Auto von Holzkirchen entfernt liegen die
schönsten Gehöfte am Taubenberg. Einige der Höfe dort hat die Stadt München
schon vor Jahrzehnten erworben, denn sie bezieht vom Taubenberg ihr reines
Trinkwasser. Ab und an kommt es vor, dass die Stadt München einen der alten
Höfe neu verpachtet, natürlich gegen Höchstgebot. Die Jungbauern, die sich
mit einem dieser Höfe gerne eine Existenz aufgebaut hätten, bekamen keinen
Zuschlag. Stattdessen ging er an die Verleger einer Münchner Tageszeitung.
Nun ist der Hof zu einem Bauernhofideal geworden. Einen Misthaufen gibt es
jetzt nicht mehr.
Auch in der Ortschaft Thann am südlichen Rand von Holzkirchen prallen
Gegensätze aufeinander. Es gibt in Thann nämlich einen ziemlich mondänen
Reitstall und auch einen exklusiven Poloklub. Morgens wie abends sind
Mädchen in engen Reithosen und mit langen Zöpfen eifrig dabei, ihre Pferde
zu striegeln. „Früher“, erzählt der Stallbesitzer, „kamen die Pferdehal…
größtenteils aus München. Heute wohnen die alle in Holzkirchen.“
Die Koppeln der Pferde liegen in Sichtweite des Hundeübungsplatzes, und
gleich dahinter wölbt sich eine graue Traglufthalle, die Notunterkunft für
die Asylbewerber. Wenn sie wollten, könnten sie zusehen, wie eigens aus
Argentinien eingeflogene Gauchos die Polopferde trainieren. Das sind
Gegensätze, mit denen eine Gemeinde wie Holzkirchen erst einmal
zurechtkommen muss.
Auf dem Marktplatz, den eine wenig umsichtige Stadtplanung zum Parkplatz
werden ließ, wird Basketball gespielt. Die Jungs werfen uninspiriert auf
den Korb, Mädels schauen gelangweilt zu, der übliche Sprechgesang schallt
aus dem Gettoblaster, öde Szene. Die Jugendlichen könnten auch Golf
spielen, Polopferde reiten oder zum Eishockeytraining gehen.
Wandermöglichkeiten gäbe es und alle die Dinge, die Eltern toll und
Jugendliche ätzend finden. Auch ein Arthouse-Kino. Stattdessen gehen sie,
wenn es ihnen noch langweiliger wird, lieber den knappen Kilometer hinüber
ins HEP. Ins Einkaufsparadies.
4 Apr 2017
## AUTOREN
Sandra Freudenberg
## TAGS
München
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Bayern
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