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# taz.de -- Nachgehakt: Zwei Jahre Erstaufnahme: Das Warten auf das Leben
> In einem Gewerbegebiet in Hamburg-Wilhelmsburg leben Flüchtlinge schon
> seit fast zwei Jahren in einer Erstaufnahme-Unterkunft aus Containern.
Bild: Isoliert und ohne Perspektive: Flüchtlingsunterkunft in der Dratelnstra�…
Einmal berichtet, dann vergessen: Immer wieder bleiben im journalistischen
Alltag Themen auf der Strecke. Die taz.nord möchte mit der Serie „Der
zweite Blick“ dranbleiben an Themen, die wir für wichtig halten:
Missständen, die wir kritisiert haben, Reformideen und Menschen, die
losgezogen sind, die Welt zu verändern.
Ayman* wartet bereits an der S-Bahn-Haltestelle Hamburg-Wilhelmsburg. Von
dort sind es nur fünf Minuten bis zur Flüchtlingsunterkunft in der
Dratelnstraße. An den beiden Eingängen zum Gelände stehen Container, an
denen Ayman sich mit einer Chipkarte anmelden muss. Drinnen sitzt das
Sicherheitspersonal und langweilt sich augenscheinlich. Ayman grüßt den
Wärter – man kennt sich mittlerweile schließlich. „Die sind alle ganz
okay“, sagt er.
Der 24-Jährige hat bereits einen Aufenthaltstitel, wohnt aber immer noch in
dem Containerdorf. Rund 50 Container und Holzhütten stehen auf einem
ehemaligen Parkplatz nahe der Bahntrasse, zwischen Sportplatz und
Industriehöfen. Die Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge wurde 2015 in
Betrieb genommen, als die Stadt mehr und mehr mit den steigenden
Flüchtlingszahlen überfordert war. Zunächst bestand das Lager nur aus
Zelten, im vorigen Winter wurde es zu einem winterfesten Container- und
Holzhüttenlager für zeitweise mehr als 1.500 Menschen.
Schon damals gab es Beschwerden von BewohnerInnen über katastrophale
Bedingungen: Überall liege Müll herum und die Wege seien matschig, es gebe
zu wenig Betreuungs- oder Sicherheitspersonal sowie Waschmaschinen und
Duschen, die nicht funktionierten. Aus den Beschwerden wurden Proteste, die
in einem Sitzstreik gipfelten. Wie sieht es heute aus?
Die Wege bestehen aus einer Mischung aus Erde und Schotter. Jetzt, während
es leicht regnet, werden sie zunehmend matschig. Wir gehen rüber zum
Container, in dem sich Aymans Zimmer befindet. Er teilt es sich mit einem
anderen jungen Mann, der ebenfalls aus Syrien geflüchtet ist. Eine richtige
Privatsphäre hat Ayman, seitdem er vor einem knappen Jahr in der
Einrichtung unterkam, nicht.
Die Zimmer sind klein und kahl. Je zwei oder drei Menschen leben darin. Pro
Container können bis zu 16 Personen untergebracht werden. Helle Neonröhren
hängen an der Decke, an der Tür werden die vom Matsch der Wege verdreckten
Schuhe ausgezogen. Die Duschen und Toiletten sind auf dem Gang. Zwei
Duschen sind kaputt und die meisten Toiletten verdreckt. Laut dem Zentralen
Koordinationsstab Flüchtlinge gibt es einen wöchentlichen Rundgang mit
Handwerken, die die Schäden reparieren. Viele Einrichtungen würden von den
BewohnerInnen mutwillig zerstört, heißt es. „Ich kenne hier Leute, die
irgendwo in den Bergen ohne Sanitäranlagen aufgewachsen sind“, sagt Ayman,
„denen muss man das auch erstmal beibringen, wie man damit richtig umgeht.“
Wer in den Holzhütten untergebracht ist, muss erst durchs Freie zu den
Duschen und Toiletten. „Das sind traurige Szenen jetzt im Winter, wenn
Eltern mit ihren Kindern erst durch Schnee und Matsch zu den Duschen gehen
müssen“, erzählt Ayman. Als neben ihm eine Ratte auftaucht, wirkt er nicht
gerade überrascht. „Man kennt den Anblick“, sagt er und lacht trotzig.
„Wegen der vielen Gewässer in der Umgebung werden sich Ratten nie
vollkommen vom Gelände fernhalten lassen“, sagt Kerstin Graupner vom
Zentralen Koordinationsstab Flüchtlinge, „aber das Hygieneinstitut ist
regelmäßig vor Ort, um neue Fallen aufzustellen.“
Ein paar Sachen hätten sich tatsächlich verbessert, seitdem er hier lebt,
sagt Ayman. Weniger Müll liege auf dem Gelände herum und auch das
Sicherheitspersonal laufe regelmäßig herum. „Die sind auch ganz in
Ordnung, machen ja auch nur ihren Job“, sagt Ayman.
Betrieben werden die Einrichtungen vom städtischen Unternehmen „Fördern und
Wohnen“. Das Dienstleistungsunternehmen unterhält in ganz Hamburg
Erstaufnahme- und Folgeunterkünfte mit rund 30.000 Plätzen. 300 Millionen
Euro Umsatz hat Fördern und Wohnen 2015 gemacht. Das Unternehmen geriet
zuletzt in die Kritik, weil es, als viele Flüchtlinge kamen, einen
Schuldenberg angehäuft hat. Wenn man sich hier umschaut, kommt man nicht
umhin zu denken, dass ein noch höherer Schuldenberg auch etwas Gutes hätte
– weil er das Leben hier verbessern könnte.
Eigentlich sollen alle Geflüchtete nur sechs Monate in der
Erstaufnahmeeinrichtung verbringen. Danach sollen sie entweder in
zugeteilte Folgeunterkünfte kommen oder sich selbst eine Wohnung suchen –
in Hamburg kein leichtes Unterfangen. Manche leben deswegen schon fast zwei
Jahre in der Erstaufnahme-Unterkunft.
In Hamburg gibt es neben der Unterkunft in der Dratelnstraße noch elf
weitere Einrichtungen zur Erstaufnahme, die über das gesamte Stadtgebiet
verteilt sind. Insgesamt leben immer noch mehr als 6.000 Menschen in einer
dieser Einrichtungen, obwohl sie längst Anspruch auf eine Folgeunterkunft
hätten. Doch vorerst sind die BewohnerInnen zum Warten verurteilt. Der
Zentrale Koordinationsstab hat deshalb den Bau von Folgeunterkünften mit
7.000 Plätzen angekündigt: „Noch dieses Jahr soll dieses Ziel erreicht
werden“, sagt Sprecherin Graupner.
Sechs Freunde von Ayman sitzen in einem kleinen Zimmer auf den Betten und
unterhalten sich. Ein Wasserkocher für den Tee wird herausgeholt. „Naja,
der ist eigentlich verboten …“, sagt Ayman. Elektrogeräte wie Wasserkocher,
Herdplatten oder Fernseher sind in den Zimmern aufgrund von
Brandschutzbestimmungen nicht erlaubt. Das Security-Personal führe
regelmäßige Kontrollen durch, sagt Ayman. Notfalls nehmen sie den
BewohnerInnen die Geräte ab. Bei Wasserkochern und Herdplatten kann er das
sogar verstehen. Aber Fernseher? Es habe aber Bedenken eines
Brandschutzbeauftragten gegeben, erklärt Graupner vom Zentralen
Koordinationsstab. Deshalb bleiben auch Fernsehgeräte verboten – vorerst.
„Zum Deutschlernen wäre das gar nicht schlecht gewesen, wenn man einen
Fernseher hätte“, meint Ayman.
Drei Mahlzeiten täglich werden den BewohnerInnen in einem anderen Container
bereitgestellt. „Es schmeckt nicht, und das Personal ist unfreundlich“,
sagt Ayman dazu nur. Er ist viel unterwegs, hat Sprachkurse und einen
kleinen Nebenjob. Allein aus zeitlichen Gründen kann er gar nicht zu jeder
Mahlzeit da sein. Dennoch werden ihm, so wie allen anderen, 154 Euro dafür
vom Hartz-IV-Regelsatz abgezogen – mehr als ein Drittel der ihm zustehenden
409 Euro. „Wir haben uns mehrere Male darüber beschwert“, sagt der
24-Jährige, „aber es ist nichts passiert.“
Wer das Essen nicht mag, hat Pech gehabt. „Die Möglichkeit, sich
Sachleistungen auszahlen zu lassen, besteht aufgrund des geltenden
Asylbewerberleistungsgesetzes nicht“, sagt Graupner. Sich selbst etwas zu
essen kochen, ist gar nicht möglich. Und das Essen aus der Kantine darf
ebenfalls nicht mit auf die Zimmer genommen werden. „Wegen den Ratten,
haben sie uns gesagt“, so Ayman. Geholfen hat das offenbar nicht viel.
Neben der fehlenden Privatsphäre ist es vor allem diese Unmündigkeit, die
ihn ärgert. Er würde gern selbst kochen und zu den Zeiten, die ihm am
besten passen. „Selbstbestimmt zu wohnen, zu arbeiten und zu lernen sind
Grundvoraussetzungen für eine gute Integration“, sagt auch Graupner.
Erstaufnahmeeinrichtungen sind dafür nicht der richtige Ort. Das wissen sie
beim Koordinationsstab auch.
„Viele sind, ehrlich gesagt, auch ziemlich faul hier geworden“, sagt Ayman.
Seine syrischen Bekannten in der Einrichtung verbringen viel Zeit
miteinander. Sie kennen sonst fast niemanden. Auch Ayman hat nur wenig
Kontakt mit Menschen außerhalb der Einrichtung. Aus dem täglichen Trott
kommt man immer weniger heraus, sagt Ayman. Und dennoch: „Gerne ist hier
niemand.“ Eine kleinere Folgeunterkunft oder gar eine eigene Wohnung, die
nicht wie in der Dratelnstraße abseits von nahezu allem liegt, könnte das
ändern.
Ayman hat mittlerweile eine WG gefunden, in die er bald einziehen kann.
Seine Freunde aus den Containern werden weiter abwarten müssen. „Mir kann
es egal sein, aber ich will schon, dass sich für die etwas verbessert“,
sagt er. Sie müssen darauf hoffen, dass im Laufe des Jahres tatsächlich die
versprochenen Folgeunterkünfte gebaut werden. Bis dahin werden auch die
Ratten ihre Begleiter bleiben.
*Name geändert
6 Mar 2017
## AUTOREN
André Zuschlag
## TAGS
Wohnungssuche
Erstaufnahme
Syrische Flüchtlinge
Containern
Bundesrechnungshof
Erstaufnahme
Flüchtlinge
Minderjährige Geflüchtete
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