# taz.de -- Debatte Reden über Betroffene: Verzeihen statt Ping-Pong spielen | |
> Betroffene zu Wort kommen zu lassen, ist richtig, birgt aber Gefahren. Es | |
> verallgemeinert ihre Positionen und zieht künstliche Grenzen. | |
Bild: Vermutlich hat jeder von ihnen Rassismus erlebt – aber jeder von ihnen … | |
Die eine Gefahr beim journalistischen Schreiben besteht darin, dass man vom | |
Gegenstand des Schreibens wenig Ahnung hat; oder jedenfalls keine Ahnung | |
aus erster Hand. Bei vielen gesellschaftlich heiklen Themen offenbart die | |
vermeintlich objektive Berichterstattung zumeist weißer, zumeist männlicher | |
Schreiber solche Wissenslücken: Da wird über Parallelgesellschaften, | |
Subkulturen und Geringverdienermilieus geschrieben, zu denen die Autoren | |
nie eine Verbindung aufgebaut oder sie längst verloren haben. | |
Sogar in wohlmeinenden Stücken wird deutlich, in welch verblüffend | |
homogenen, weißen, bildungsbürgerlichen Zirkeln sich die meisten | |
Verfasser*innen bewegen. In ihren Texten fehlen oft die Stimmen derer, über | |
die berichtet wird: der Betroffenen. | |
Die andere Gefahr ist allerdings, dass Journalist*innen durchaus Betroffene | |
kennen und deren Berichte und Meinungen zum unverrückbaren Zeugnis und zur | |
moralischen Legitimation der eigenen Berichterstattung erheben. Auch das | |
muss nicht in böser Absicht geschehen. Im Gegenteil wird oft versucht, der | |
eigenen Perspektivverengung damit etwas entgegenzusetzen. | |
So tauchen die viel beschworenen Subalternen dann urplötzlich als | |
Autoritäten in den deutschen Feuilletons und Kommentarspalten auf: mein | |
türkischer Lebensmittelhändler, die ukrainische Putzfrau, mit der ich | |
befreundet bin, ein Freund, der früher auf den Strich gegangen ist. | |
## Der Diskurs wird zur Sackgasse | |
Irgendwie kennt plötzlich jeder jemanden, der sich prostituiert hat, oder | |
der als Schwuler einst im Iran beheimatet war oder der für | |
transgeschlechtliche Menschen sprechen kann. | |
Ich habe das etwas zugespitzt, aber eigentlich fast wider Willen. Denn ich | |
meine es ernst, wenn ich sage, dass dieses Heranziehen von Betroffenen als | |
Kronzeug*innen in bester, sogar selbstreflexiver Absicht geschieht. | |
Auch ich habe es schon oft getan und werde es, fürchte ich, wieder tun. Das | |
Problem ist nur: Auch dieser Betroffenendiskurs ist eine Sackgasse oder | |
kann zu einer werden. | |
Denn „die“ Betroffenen, das wissen wir schließlich alle, gibt es nicht. | |
Betroffene sind unterschiedlicher Ansicht. Sie haben Unterschiedliches | |
erlebt, und sie ziehen aus dem Erlebten unterschiedliche Schlüsse. Sie | |
haben zweifellos jede*r ein Wissen, das andere nicht haben und das es wert | |
ist, geteilt zu werden; aber keine*r von ihnen besitzt die letztgültige | |
soziologische Expertise oder das Mandat, eine Debatte ein für allemal zu | |
entscheiden. | |
## Es wird suggeriert: Der Fall ist erledigt | |
Navid Kermani hat über die Islamdebatte einmal gesagt, es werde da oft ein | |
gewisses Suren-Pingpong betrieben: Der eine zitiert diesen Koranvers, die | |
andere jenen. Genauso geschieht es bisweilen mit Betroffenen: Der eine | |
kennt welche, die es so sehen, andere sehen es anders. Und schon sind wir | |
im Betroffenen-Pingpong verfangen. | |
Es fiel mir auf in der Debatte über sexuelle Gewalt, die sich an [1][Mithu | |
Melanie Sanyals jüngste Texte] anschloss: Viele Texte kreisten um die Sicht | |
der Betroffenen. Was bedeutet eine Vergewaltigung für sie individuell, wie | |
sprechen sie darüber, was ist für sie die passende Bezeichnung? | |
In der Debatte über Prostitution ist es schon lange ähnlich, genauso beim | |
Thema Rassismus. Es werden Interessenvertretungen gebildet und Gruppen, die | |
bestimmte Erfahrungen bündeln und ihnen Gehör verschaffen sollen; mal wird | |
Verein X und mal Verein Y mit einem relevanten Statement zitiert. Das ist | |
völlig richtig, bis auf den Unterton, der oft mitschwingt und suggeriert, | |
weil X oder Y es sagen, sei der Fall damit erledigt. | |
## Weg vom Absolutismus | |
Ich hoffe, es ist klar: Ich meine nicht, dass man Betroffene nicht anhören | |
soll. Oder dass sie keine Gelegenheit erhalten sollen, ihre Stimmen | |
einzubringen in den Diskurs vermeintlich unbetroffener Expert*innen. | |
Bereits das ist eine falsche Gegenüberstellung, die mir in der neuerlichen | |
Debatte über Vergewaltigung unangenehm aufgefallen ist, bis Marion Detjen | |
sie überraschend durchbrach mit einem Text, der sie sowohl als Betroffene | |
einführte als auch theoretisch gehaltvoll argumentierte. Denn natürlich | |
kann auch einer Wissenschaftlerin sexuelle Gewalt widerfahren (sein). Und | |
auch eine Frau, der eine Vergewaltigung widerfahren ist, kann als | |
Wissenschaftlerin oder Autorin arbeiten. | |
Im Grunde begehen wir also bei solchen Diskussionen gleich zwei Fehler: Zum | |
einen verabsolutieren wir gern die Meinung Betroffener; zum zweiten ziehen | |
wir eine rigide Grenze zwischen den beiden vermeintlich getrennten Gruppen | |
Autor*innen versus Betroffene. Ein Teufelskreis, weil die Grenze erneut | |
dazu führt, Betroffene heranzuziehen mit der triumphalen Geste: Seht ihr, | |
die sagen es auch! | |
Als Betroffene zwar nicht beim Thema Prostitution, aber von sexueller | |
Gewalt und Rassismus muss ich zugeben: Auch von der eigenen | |
Betroffenheit sprechen wir bisweilen mit einer Autorität, die wir nicht | |
besitzen. Wir vergessen, [2][dass andere Ähnliches anders erleben]. Und | |
was fremde Menschen uns jahrzehntelang antaten, hauen wir möglicherweise | |
ausgerechnet denen um die Ohren, die es jetzt besser zu machen versuchen. | |
## Wer verletzt wurde, verletzt oft auch selbst | |
In all diesen Diskussionen gab es in den letzten Jahren so viele | |
Beschuldigungen, Unterstellungen, Verletzungen und Beleidigungen, dass wir | |
keinesfalls welche hinzufügen sollten. Was leicht geschieht, denn wer oft | |
verletzt wurde, verletzt oft auch selbst. Diese Themen gehen unter die | |
Haut, und unsere Haut ist so dünn geworden, dass wir einander oft als | |
Feinde begegnen. | |
Doch der Feind sitzt anderswo. Wir, die wir zum Beispiel in der taz, in | |
feministischen Blogs oder mit unseren Facebook-Freund*innen diskutieren, | |
suchen immerhin nach einem respektvollen Umgang mit diesen Themen. [3][Wir | |
müssen uns aussprechen], einander verzeihen und weitersuchen. Dann werden | |
wir Wege finden, gemeinsam zu heilen und zu wachsen. | |
19 Mar 2017 | |
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## AUTOREN | |
Hilal Sezgin | |
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