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# taz.de -- Debatte Arabischer Frühling: Die Zeit des Zweifelns ist vorbei
> Sechs Jahre nach dem Arabischen Frühling hat sich der Diskurs gedreht.
> Die Revolutionshelden von damals werden jetzt als naive Verlierer
> gesehen.
Bild: Vor sechs Jahren Helden, heute naive Verlierer? Proteste am Tahrirplatz (…
Der Freispruch für Husni Mubarak war wie der letzte Nagel, der den Sarg der
Träume verschließt. Ägyptens ehemaliger Herrscher ist also nicht
verantwortlich für den Tod von 850 Menschen auf dem Tahrirplatz, für jene
Opfer aus den 18 Tagen Revolte im Jahr 2011, die dem Gestürzten zunächst
ein Todesurteil eintrugen.
Extrem, wie die jeweiligen Zeitumstände die juristische Bewertung diktieren
können. Bemerkenswert aber auch, wie aus der damals überbordenden
Begeisterung deutscher Berichterstatter ein Unterton des Tadels wurde.
Was auf dem Tahrirplatz geschah, sei [1][„nur ein naiver Aufstand“]
gewesen, schreibt in der Süddeutschen Zeitung Tomas Avenarius, von dem ich
noch eine wunderbare Reportage vom Abend des Sturzes Mubaraks besitze, in
der das Wort Revolution sehr oft vorkommt. Der Begriff Naivität wird sonst
nicht benutzt für Menschen, die sich unbewaffnet gegen Panzer stellen. In
dem Wort schwingt ein Vorwurf mit. Naiv ist, wer die Folgen seines Handelns
nicht bedenkt.
## Verhängnisvolle Fantastereien
Binnen sechs Jahren hat sich der Diskurs zum sogenannten Arabischen
Frühling eigentümlich gedreht. Manches klingt nun wie: Hätten sie es nur
nicht getan. Hätten sie nur nicht im syrischen Daraa, im jemenitischen
Sanaa oder eben in Kairo durch ihre Fantastereien das Verhängnis
heraufbeschworen: Chaos, Restauration, Krieg, Staatszerfall.
Und auch dies hat sich gedreht: Als die Umstürze noch rosig gesehen wurden,
sprachen die Nahostexperten über ihre eigene Prognoseschwäche;
Bescheidenheit kehrte ein. Heute ist die Zeit des Zweifels vorbei, die
Analysten sind wieder selbstbewusst eindeutig – als Schwarzseher. In
seinem Buch „Die Strenggläubigen“ schreibt Wilfried Buchta, „fast übera…
würden „die toleranten, kulturell komplexen und gelasseneren Varianten des
Islam immer stärker zurückgedrängt“.
Leben 1,7 Milliarden Menschen in 57 Ländern wirklich nach einem einzigen
Trend? Oder wird aus der Enttäuschung über die Entwicklung des Nahen Ostens
nun ein Deutungsmuster für den großen Rest der muslimischen Welt?
Die Hälfte dieser Welt, die Frauen, werden in solchen Analysen gern
ignoriert; ihr Fortschritt an Bildung, Mitsprache, Berufstätigkeit und in
deren Folge modernisierte Milieus und Familienverhältnisse – all dies fügt
sich nicht dem behaupteten Einheitstrend. Genauso wenig wie ein bizarrer
Islam-Pop bei afrikanischen Jugendlichen oder kürzlich der iranische
Oscar-Taumel für einen Film, der von Gelegenheitsprostitution in einem
Teheraner Apartmenthaus erzählt.
## Historische Kämpfe
Und warum werden islamische Länder eigentlich stets nur untereinander
verglichen? Warum ziehen wir beispielsweise keine Linie vom Tahrirplatz zum
Bukarester Siegesplatz, wo sich jüngst tagelang mehr als 200.000 Menschen
versammelten? Sind Bürger, nur weil sie Muslime sind, so zutiefst anders in
ihren Wünschen und Erwartungen? Und erleiden ihre Hoffnungen Schiffbruch
nur aufgrund von Religion?
Die arabischen sozialen Revolten hatten in der nichtmuslimischen Welt
Vorläufer und Nachfolger: turbulente Massenproteste und Platzbesetzungen in
China, Indien, Brasilien, Südafrika, Südkorea. Auch diese Kämpfe wurden von
Beobachtern oft als historisch erachtet, weil sie durch die Zahl der
Beteiligten, durch ihre Militanz und das Ausmaß der Konfrontation mit den
Ordnungskräften alles Bisherige in den Schatten stellten.
Von Siegen ist selten zu berichten. Auch anderswo scheitern verzweifelt
Kämpfende aus ähnlichen Gründen, wie sie der Sozialwissenschaftler Asef
Bayat für die arabischen Aufständischen beschrieben hat. „Sie blieben
außerhalb der Strukturen der Macht, weil sie nicht planten, den Staat zu
übernehmen. In den späteren Stadien, als sie erkannten, dass sie ihn
benötigen, fehlten ihnen die politischen Ressourcen – Organisation,
Führung, strategische Visionen.“
## Apokalypse, Düsternis
In Ägyptens kurzem Frühling der Freiheit erblühten unabhängige
Gewerkschaften, wurde für einen Mindestlohn gestreikt; neue
Bauernvereinigungen besetzten Land. Die Aufstände hatten ja nicht nur
anti-despotischen Charakter, sondern waren Erhebungen gegen eine
neoliberale Politik der Verarmung, deren Folgen im Ägypten dieser Tage
drastisch sichtbar sind.
Aber vermummte Kämpfer vor brennenden Barrikaden werden bei uns längst
nicht mehr glorifiziert. Die Revolutionsmode verging wie das Wetter
vergeht, spätestens nach 2013, nach den Protesten auf dem Istanbuler
Taksimplatz. Dann kamen die Flüchtlinge.
An vielen Orten der Welt setzen sich Aufstände fort, die von den arabischen
Revolten nicht genuin unterschieden sind. Doch die liberalen Medien des
Westens pflegen nun eine andere Gestimmtheit: Apokalypse, Düsternis. Als
drehten Figuren wie Trump und Erdoğan allein am Rad der Welt. Die Verengung
ist eine Fake News eigener Art.
## Mangel an Utopie
Noch nie waren so viele Menschen in Bewegung: Der Befund kann auf
Flüchtlingsströme ebenso gemünzt werden wie auf soziale Kämpfe. Und deren
Koordinaten sind trotz verschiedener kultureller Einfärbung ähnlich:
massenhafte Mobilisierung durch digitale Netze; zugleich ein Mangel an
Utopie, an Alternativen zur langen Agonie des Kapitalismus.
Und deshalb gibt es vielerorts auch eine neue Strenggläubigkeit, die mit
Islam nichts zu tun hat und sich doch gleichfalls als Abwehr kultureller
Komplexität beschreiben lässt: Gemeint ist eine aus sozialen Ängsten
gespeiste Xenophobie, ob in den beschaulichen Niederlanden oder in
Südafrika, mit seinen clashes von Einheimischen und afrikanischen
Migranten.
Die ägyptische Schriftstellerin Mansura Eseddin schrieb einmal: „Der Traum
von Brot, Freiheit und sozialer Gerechtigkeit lebt weiter, auch wenn der
Körper der Revolution in einer Blutlache liegt.“ Halten wir die Gestorbenen
in Ehren.
12 Mar 2017
## LINKS
[1] http://www.sueddeutsche.de/politik/aegpyten-falscher-freispruch-1.3403322
## AUTOREN
Charlotte Wiedemann
## TAGS
Zehn Jahre Arabischer Frühling
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