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# taz.de -- Politiker wegen Betrug verurteilt: Weder Tisch noch Kleiderschrank
> Der ehemalige Brandenburger Abgeordnete Peer Jürgens ist wegen schweren
> Betrugs verurteilt worden. Er hatte zu hohe Fahrtkosten abgerechnet.
Bild: Ihm geht's an den Kragen: Politiker Peer Jürgens am Tag des Urteils
Berlin taz | „Showdown!“, ruft ein Journalist in den ruhigen Flur des
Potsdamer Gerichts hinein. „Ich bin froh, dass dieser Prozess jetzt endlich
mal ein Ende hat“, antwortet ein anderer, unterdrückt ein Gähnen und checkt
das Smartphone. Vor dem Gerichtssaal steht ein halbes Dutzend
Medienvertreter und wartet auf den Angeklagten: den Politiker Peer Jürgens.
Eine halbe Stunde später wird die Richterin ihn schuldig sprechen.
Der Angeklagte galt vor einigen Jahren als Hoffnung der Brandenburger
Linkspartei. Als Jürgens 2004 in den Landtag gewählt wurde, studierte er
noch. Seine Partei stieg bei der Wahl zur zweitstärksten Kraft im Land auf.
Zehn Jahre lang saß der Nachwuchspolitiker im Landtag. Die Ermittlungen
gegen ihn begannen 2014 – also in dem Jahr, in dem die Linkspartei in
Potsdam zum ersten Mal Teil einer Landesregierung wurde.
Constanze Rammoser-Bode verurteilt ihn wegen schweren gewerbsmäßigen
Betrugs und Wahlfälschung. Das Schöffengericht sieht es als erwiesen an,
dass Jürgens über zehn Jahre lang einen falschen Wohnsitz angegeben und so
zu Unrecht Mietzuschüsse und Fahrtkosten kassierte.
Nach seiner Wahl 2004 meldete Jürgens sein Elternhaus in Erkner als
Hauptwohnsitz an, ab 2011 eine Wohnung in Beeskow. Beide Orte liegen weit
weg von Potsdam im Landkreis Oder-Spree. Er erhielt als Pendler insgesamt
69.700 Euro Fahrtkosten. In Wahrheit soll er erst in Berlin, dann in
Potsdam gelebt haben. Dort kaufte er 2009 eine Eigentumswohnung. Trotzdem
erhielt er Mietkostenzuschuss. Die 7.400 Euro hat er dem Landtag bereits
zurückgezahlt.
## Die Richterin spricht von einem „Indizienball“
Außerdem wurde Jürgens 2009 in den Kreistag in Oder-Spree gewählt. Laut dem
Schöffengericht war das Wahlfälschung. Denn eigentlich darf nur
kandidieren, wer im Wahlkreis lebt.
Die Strafe: ein Jahr und zwei Monate Haft auf Bewährung. Außerdem muss er
die Prozesskosten und eine Geldstrafe von 7.200 Euro zahlen.
Als er das Urteil hört, schaut Peer Jürgens noch ernster als sonst und
reibt sich das Kinn. Die Haut in seinem Gesicht ist rot und wirkt
ausgetrocknet. Die Haare des 36-Jährigen sind in den letzten Monaten
teilweise ergraut. Jürgens' lange Wimpern blinzeln heftig.
Dann schluckt der Verurteilte und sieht der Richterin ins Gesicht. Die
erklärt ihm höflich und sachlich, dass sie sein damaliges geringes Alter
für einen milderndem Umstand hält, ebenso sein Teilgeständnis und vor allem
die „Nachteile“, die er durch Ermittlungen und Verfahren hatte. Diese haben
unter anderem seine politische Karriere beendet.
## „Muss er denn Gardinen haben?“
Angeklagt wurde Jürgens im Oktober. Der Prozess hat sich vor allem deswegen
in die Länge gezogen, weil das Gericht Jürgens‘ Hauptwohnsitz, also sein
Lebensmittelpunkt feststellen musste. Das geht, wie Rammoser-Bode sagt,
nicht mit „dem einen Kronzeugen“ oder „dem einen Hauptbeweismittel“.
Stattdessen spricht sie von einem „Indizienball“. Der Wohnsitz wurde anhand
von Stromverbrauch, Zeitungsabo und Fahrradschloss ermittelt. So habe es,
schildert die Richterin, in der Wohnung in Beeskow weder Tisch noch
Kleiderschrank noch Garderobenhaken gegeben. Dort den Lebensmittelpunkt zu
sehen, sei „lebensfremd“.
„Einen Indizienball gibt es im Strafrecht nicht“, kommentiert Jürgens'
Anwalt Norman Lenz nach dem Prozess. Die Idee des Hauptwohnsitzes sei
„kleinbürgerlich“. „Mein Mandant ist jung und hat ein aktives Leben. Muss
er denn Gardinen haben?“, empört sich Lenz.
Er kündigt an, Rechtsmittel einzulegen; höchstwahrscheinlich werde sich
Jürgens für eine sogenannte Sprungrevision entscheiden. Das heißt, die
Berufung in erster Instanz wird übersprungen und keine neuen Beweise mehr
ermittelt. Stattdessen werden bei der Sprungrevision Rechtsfragen erörtert.
Im Fall Jürgens wird es dabei wohl vor allem um Fotos gehen, die Ermittler
2014 bei zwei Hausdurchsuchungen gemacht haben. Das Landgericht hat die
Durchsuchungen von Jürgens‘ Potsdamer und Beeskower Wohnung für
rechtswidrig erklärt. Dass das Gericht daraus kein Beweismittelverbot
abgeleitet habe, halte er für einen „Skandal“, sagt Lenz der taz.
## Keine „Vorbildfunktion“
Rammoser-Bode bezieht sich in ihrer Urteilsbegründung mehrfach auf die
Fotos. Als sie die ordentlich in Regale sortierten Akten in Jürgens'
Potsdamer Wohnung beschreibt, schwingt sie die Arme wie eine
Orchesterdirigentin.
Als erschwerend empfindet Rammoser-Bode die Dauer des Betrugs. „Zehn Jahre
lang hätten Sie immer wieder Zeit gehabt zu sagen: Jetzt ist Schluss“,
tadelt die Richterin, „das zeigt doch eine gewisse kriminelle Energie“.
Außerdem kritisiert sie, dass Jürgens seiner „Vorbildfunktion“ als
Politiker nicht gerecht geworden sei. Der „große Vertrauensbruch“ gegenüb…
den Bürgern könne Politikverdrossenheit fördern.
Jürgens Bewährung ist drei Jahre lang. Er muss in dieser Zeit straffrei
bleiben und dem Amtsgericht Potsdam „immer die aktuelle Wohnanschrift
melden“. Die unfreiwillige Komik des Spruchs, den sie herunter leiert,
bemerkt die Richterin erst, als einige Zuschauer lachen. Peer Jürgens lacht
nicht.
14 Feb 2017
## AUTOREN
Jana Anzlinger
## TAGS
Landtag Brandenburg
Betrug
Die Linke
Wahl
Andrej Holm
Schwerpunkt Flucht
Nauen
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