# taz.de -- Retrospektive: Der Osten, wie man ihn sieht | |
> Im Kino Babylon in Mitte läuft derzeit das Festival „DOK – DDR – Umson… | |
> mit 180 Dokumentarfilmen aus der DDR. | |
Bild: Der Dokumentarfilm „Die Mauer“ (1990) von Regisseur Jürgen Böttcher | |
Es ist ein schöner Nachmittag, man könnte schon fast auf dem Bürgersteig | |
einen Kaffee trinken gehen, die Berlinale ist auch noch nicht ganz zu Ende, | |
und trotzdem sind mehr als 20 Zuschauer gekommen, um sich im Kino Babylon | |
am Rosa-Luxemburg-Platz einen Dokumentarfilm mit dem schrulligen Namen „Das | |
Pflugwesen, es entwickelt sich!“ anzusehen. | |
Der Film stammt aus dem Jahr 1987, und er ist so schrullig, wie er heißt, | |
denn er zeigt ein Leistungspflügen in Ungarn, an dem auch Bauern aus der | |
DDR beteiligt waren. Es fällt zunächst nicht leicht, hinter all den | |
schweren Maschinen, dem Staub und den unbewegten Gesichtern auf der | |
Leinwand den Sinn dieses Films zu erkennen. | |
„Im Grunde haben wir einen Raum geschaffen, in dem man einer Innensicht der | |
DDR endlich einmal völlig ideologiefrei begegnen darf“, sagt Timothy | |
Grossman vom Kino Babylon zu seinem ambitionierten Festival „DOK – DDR – | |
Umsonst“, das dort bereits seit dem 9. Februar und noch bis zum 9. März | |
läuft. 180 Filme aus 44 Jahren DDR, freier Eintritt, auch für „Das | |
Pflugwesen, es entwickelt sich!“. Die Presse hat auch wegen der gerade zu | |
Ende gegangen Berlinale eher wenig berichtet – und doch waren bislang mehr | |
als 3.100 Zuschauer da, sagt Grossmanns Mitarbeiterin Barbara Löblein. | |
Diese Frau kennt sich aus, denn vorm Babylon hat sie acht Jahre lang im | |
Progress Film-Verleih gearbeitet, der das vollständige Filmerbe der DEFA | |
verwaltet, des volkseigenen Filmunternehmens der DDR. | |
Was aber ist das Interessante an den Dokumentationen, die die DEFA | |
produziert hat und die nun im Babylon zu sehen sind? | |
Am Beispiel des Films über das Pflügen kommt es ganz gut heraus, denn wider | |
Erwarten wird er im Laufe der Zeit sehr amüsant. Er entpuppt sich als Film | |
über Bauern in der DDR, die ziemlich abgestumpft wirken. Über ein System, | |
das bereits dem Untergang geweiht ist. Und über die völlig entleerten | |
Rituale, die Bauern nach wie vor zu den Helden der Arbeit überhöhen, die | |
sie nie waren. Es geht um Illusions- und Utopieverlust, ohne dass dies | |
direkt zur Sprache kommen müsste. | |
Die unausgesprochene Kritik, die dieser Film übt, wird besonders deutlich, | |
als der zweite Film von Barbara und Winfried Junge an diesem Abend anläuft | |
– „Diese Briten, diese Deutschen“ aus dem Jahr 1988, der in der | |
nordbritischen Kohle- und Werftstadt Newcastle angesiedelt ist. Ganz anders | |
als die Bauern wirken die Arbeiter, die nun gezeigt werden, ansteckend | |
vital. Durch die Deregulierungspolitik von Margaret Thatcher stehen sie | |
komplett an der Wand, machen vereinzelt fünf prekäre Jobs die Woche, um zu | |
überleben, ohne feste Verträge. Und trotzdem wirken sie humorvoll, | |
unverdrossen, ja kämpferisch. | |
## Sie waren privilegiert | |
Die Regisseure beider Filme, Barbara und Winfried Junge, geboren 1943 und | |
1935, sind auch die Erfinder eines der berühmtesten Dokumentarfilmprojekte | |
der DDR, der Golzow-Chronik, die ebenfalls in Teilen im Babylon zu sehen | |
ist. Von 1961 bis 2007 haben die Junges in 20 Filmen das Heranwachsen und | |
Älterwerden von 18 Menschen der Jahrgänge 1953 bis 1955 begleitet, die sie | |
ursprünglich in einer Schulklasse im Oderbruch gefunden hatten. | |
Heute sitzen die Junges im Foyer des Babylon und geben unumwunden zu, wie | |
privilegiert sie eigentlich waren. Und das besonders im Vergleich zu den | |
Dokumentarfilmemachern heute, die oft, auch wenn sie etabliert sind, Jahre | |
um die Finanzierung jedes neuen Films kämpfen müssen. | |
Gut: Es gab hin und wieder Einmischungen von oben, gibt Winfried Junge bei | |
einem Pott Kaffee mit einem verschmitzten Lächeln zu, „aber kein Vergleich | |
zum Spielfilm und zum Fernsehen, die natürlich ganz andere Einschaltquoten | |
hatten als der Dokumentarfilm“. | |
Wie die meisten Dokumentarfilmemacher der DDR waren die Junges | |
festangestellt bei der DEFA. Man hatte Zeit zu recherchieren, Geld für | |
Technik und Reisen. Im Grunde genoss man eine Art eingeschränkte | |
Narrenfreiheit. | |
## Vorsichtig und langsam | |
Wahrscheinlich waren es diese gut ausgestatteten Freiräume, die die | |
Dokumentarfilme der DDR auch fast dreißig Jahre nach dem Untergang der DDR | |
bis heute so spannend machen. Viele der Filmemacher waren vom Direct Cinema | |
inspiriert, versuchten also, sich eher vorsichtig, langsam und beobachtend | |
an ihre Sujets heranzutasten. Und sich so wenig wie möglich als Regisseure | |
einzumischen. Also anders als von der Obrigkeit gewünscht die Dinge zu | |
zeigen, wie sie sie empfanden – und nicht, wie sie sein sollten. | |
Einer der Filmemacher, der dies besonders kompromisslos verfolgte – | |
vielleicht sogar einer der interessantesten der DDR –, ist Jürgen Böttcher, | |
geboren 1931. Leider hat er nach der Wende keinen Film mehr gedreht. Schon | |
in den 1970er und 1980er Jahren nahm er den Autorenkommentar in seinen | |
Filmen immer weiter zurück, ließ in Filmen, die einfach auch mal nur | |
„Wäscherinnen“, „Rangierer“ oder „Die Küche“ heißen konnten, die… | |
reden – oder zeigte sie gar nur bei ihrer Arbeit, ohne sie noch zu | |
befragen. | |
Man sieht in Böttchers Filmen, die man nun im Babylon entdecken oder wieder | |
entdecken kann, eine Seite der DDR, die so unbeeindruckt wirkt von allem, | |
was von oben kam, dass man dieses Land danach wirklich nicht mehr nur als | |
Diktatur oder gar Herrschaftsregime sehen mag. Böttchers Filme sind so gut, | |
dass sie anders als andere Filme über die DDR in jeder Schulklasse gezeigt | |
werden sollten: weil sie erzählen, was die DDR auch war, wie in ihr gelebt, | |
geliebt und gearbeitet wurde, wie sie funktionierte oder eben nicht. | |
Ein anderer der spannendsten Filmemacher, die man bei diesem schönen | |
Festival im Babylon erleben darf, ist Volker Koepp, Jahrgang 1944, der auch | |
nach der Wende weite drehte. Zu seinen bekanntesten Dokumentarfilmen gehört | |
„Herr Zwilling und Frau Zuckermann“ aus dem Jahr 1999, über zwei der | |
letzten noch im alten Czernowitz geborenen Juden, die das ehemalige Zentrum | |
jüdischer Kultur in der Bukowina sehr plastisch beschreiben. | |
## Beharrliche Fragetechnik | |
Im Babylon sind nun 25 der Filme Koepps aus den Jahren 1967 bis 1989 zu | |
sehen. Es ist faszinierend, wie ruhig, schlicht und konzentriert seine | |
Filme immer schon waren, wie lang die Kameraeinstellungen sind, wie sanft | |
und beharrlich seine Fragetechnik. | |
Zum Beispiel im „Wittstock“-Zyklus, ebenfalls eine Langzeitbeobachtung. | |
Drei Filme aus den Jahren 1975, 1976 und 1978 aus dieser Reihe laufen im | |
Babylon. Nur vordergründig geht es um den Siegeszug der Textilindustrie, | |
die die landwirtschaftlich geprägte Kleinstadt auf den Kopf stellte. | |
Drei selbstbewusste Frauen werden begleitet: Edith, Elsbeth und Renate. In | |
der ersten Zeit wehren sie sich noch gegen ihre Chefs und die Starre des | |
Produktionssystems, machen sich auch lustig über die Erzeugnisse ihrer | |
Fabrik: „Wer soll diese Pullover denn tragen?“ Doch dann werden sie langsam | |
leiser, verzagter. | |
Im Falle des „Wittstock“-Zyklus ist es fast schade, dass das Babylon nur | |
Filme aus der DDR zeigt, denn in den beiden Filmen Volker Koepps über | |
Wittstock, die nach der Wende entstanden, kann man verfolgen, wie Edith, | |
Elsbeth und Renate 1989 auf der Straße den Wandel herbeidemonstrierten. | |
Und wie sie dann ihre Arbeit verloren. Sie wurden von denselben Chefs | |
abserviert, deren Betriebsführung sie zu Zeiten der DDR kritisiert hatten. | |
23 Feb 2017 | |
## AUTOREN | |
Susanne Messmer | |
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