# taz.de -- Flüchtlinge kehren nach Calais zurück: Keine Zeit zum Schlafen | |
> Migranten? Offiziell gibt es sie in Calais nicht, seitdem das Lager | |
> geräumt wurde. Dabei leben dort wieder Hunderte, die Hälfte davon | |
> Minderjährige. | |
Bild: In der Nacht suchen die Flüchtlinge in Calais einen Weg zu den Waggons u… | |
CALAIS taz | Als der Zug aus Lille Samstagabend in Calais einfährt, steht | |
das Empfangskommando schon bereit. Zwei Gendarmen in dunkelblauen Uniformen | |
nehmen den jungen Afrikaner am Ende des Gleises in Gewahrsam. Sie bringen | |
ihn die Treppe hoch und durch die kleine Bahnhofshalle auf den Vorplatz, wo | |
zwei Gendarmerie-Fahrzeuge und ein ziviler Kleinbus warten. An der Mauer, | |
die das Gelände begrenzt, wird er durchsucht. Dann muss er warten, neben | |
zwei anderen Männern, deren Gesichter in der Dunkelheit nicht zu erkennen | |
sind, bewacht von einer Gendarmerie-Einheit. Nach einiger Zeit werden sie | |
in den Bus verfrachtet und weggefahren. | |
Szenen wie diese spielen sich hier jeden Tag ab. Die Behörden wollen | |
verhindern, dass sich erneut Transitmigranten auf dem Weg nach England in | |
Calais niederlassen. Offiziell nämlich gilt das Problem als gelöst, seit | |
die Präfektur der nordfranzösischen Hafenstadt Ende Oktober den „Dschungel�… | |
räumen ließ, jenes inoffizielle Flüchtlingscamp, das sich längst in eine | |
permanente Siedlung verwandelt hatte. 4.000 seiner Bewohner verteilten die | |
Behörden in Übergangsunterkünfte überall im Land. Von dort aus sollten sie | |
in Frankreich Asyl beantragen können. | |
Der anderen Hälfte der Geflüchteten im „Dschungel“ jedoch schien dies kein | |
Ersatz für ihren Traum vom Leben in England. Tausende tauchten unter, bevor | |
die Bagger kamen. Seit Jahresbeginn wiederholt sich nun, was in Calais | |
bislang nach jeder großen Räumung geschah: Die Migranten kehren zurück. Sie | |
sind nicht sofort zu bemerken, doch wer die Augen offen hält, kann am Abend | |
Gestalten in Gebäudeeingängen kauern sehen oder zwei zurückgebliebene | |
Schlafsäcke auf einem Grünstreifen, unweit eines Industriegebiets zwischen | |
Stadt und Eurotunnel. | |
Irgendwo dort draußen – die genaue Adresse wird wegen möglicher Angriffe | |
Rechtsextremer geheimgehalten – liegt eine riesige Lagerhalle. Warehouse | |
nennen sie die Hunderten von Freiwilligen, die in den letzten beiden Jahren | |
nach Calais gekommen sind. An diesem Sonntagmorgen wird die eine Hälfte der | |
Halle geleert, der Mietkosten wegen, wie François Guennoc erklärt, ein | |
Mitglied der Hilfsorganisation L'Auberge des Migrants. In der verbliebenen | |
Hälfte lagern nun vorn die Essensvorräte und hinten Kleider. Aus den Boxen | |
kommt Bob Marleys „Small Axe“.Es riecht nach Curry und gebratenem Gemüse. | |
## „Tagsüber verstecken sie sich“ | |
Kochen ist eine der wichtigsten Tätigkeiten der verbliebenen rund 40 | |
Helfer, denn offiziell wird kein Essen mehr an Transitmigranten verteilt. | |
„Dabei sind inzwischen wieder 200 bis 400 in der Stadt, und die Hälfte von | |
ihnen ist unter 18“, so Guennoc. Die Herkunftsländer? „Dieselben wie | |
vorher. Die Minderjährigen kommen vor allem aus Eritrea und Afghanistan, | |
doch es gibt auch viele Äthiopier und Pakistaner und einige Syrer. Tagsüber | |
verstecken sie sich. Nachts suchen sie nach einem Lkw Richtung England.“ | |
Eines ist unverändert in Calais: Noch immer ist das Warehouse das | |
schlagende Herz der Unterstützerszene und die Vorratskammer einer | |
Infrastruktur, die rein auf Freiwilligen beruht. Nur dass diese vor Ort nun | |
viel kleiner ist – und dafür in geografischem Rahmen wesentlich größer. | |
„Wir haben ein Netzwerk aufgebaut, um mit möglichst vielen der Zentren | |
Kontakt zu haben, zu denen die Migranten im Oktober gebracht wurden“, sagt | |
François Guennoc. 5.000 Menschen im gesamten Land sind beteiligt, um mit | |
Transport, Sprachkursen und Kleidung zu helfen. Die Transitmigranten von | |
Calais sind seit Oktober zu einer landesweiten Angelegenheit geworden. | |
Am Kanal selbst kommt nun gänzlich unscheinbaren Orten eine | |
Schlüsselposition zu, etwa der grauen Baracke, die an einer Schnellstraße | |
in Richtung Landesinnere in den Feldern liegt. Der Name der | |
Hilfsorganisation Secours Catholiques steht auf einem Schild an der Wand, | |
und außer einem kleinen Refugees-Welcome-Aufkleber auf dem Gitterzaun | |
deutet nichts auf ihre Funktion hin. Dabei ist sie einer der letzten | |
Anlaufpunkte, an denen es wenigstens am Tag ein Dach über dem Kopf, etwas | |
zu essen oder eine Tasse Tee gibt. Eine freundliche ältere Dame von Secours | |
Catholiques erzählt, täglich kämen 30 bis 40 Migranten hierher. | |
## Erschöpft in der Baracke | |
Im Aufenthaltsraum ist es noch ruhig. Einige junge Afrikaner sitzen um den | |
Tisch herum, die Gespräche sind leise, andere schlafen auf dem Boden. Es | |
ist noch früh am Tag für Menschen, die in der Nacht ihr Leben riskierten, | |
um unerkannt auf einen Lkw nach England zu gelangen. Mohammed ist 17, er | |
sitzt auf der Stufe vor dem Eingang, der Kopf ruht auf seinen Knien, den | |
Arm darum geschlungen. Jede Nacht versucht er es, seit er vor einem Monat | |
nach Calais zurückkam. „Und seit einem Monat habe ich kaum geschlafen“. | |
Einmal, als er es doch tat, fanden ihn Polizisten und zerschnitten seinen | |
Schlafsack mit einem Messer. | |
Auch ein anderer der zahlreichen Eritreer hier, nennen wir ihn Thomas, ist | |
an den Ärmelkanal zurückgekehrt. 17 Jahre alt ist auch er, die letzten vier | |
Monate vor der Räumung verbrachte er im „Dschungel“ und die Zeit danach in | |
einer Unterkunft für Minderjährige, „in der Nähe der spanischen Grenze bei | |
Toulouse“. Jetzt steuert Thomas nachts wieder die Lkw-Parkplätze an. An | |
diesem Mittag kommt ein Anruf. Eine der Helferinnen hört, zwei | |
Minderjährigen sei in der vergangen Nacht der Sprung geglückt. | |
Für die bevorstehende Nacht machen sich in der Dämmerung drei junge Frauen | |
bereit. Soeben haben sie in ihrer Wohnung am Rand des Zentrums zu Abend | |
gegessen. Jetzt steigen sie in den Transporter, in dessen mit Regalen | |
ausgebautem Rückraum Schlafsäcke und Kleidung verstaut sind. Sie gehören zu | |
einem der drei Patrouillenteams, die es hier gibt und die überall helfen, | |
wo es nötig ist. Im fahlen Licht der Laternen gleitet der Bus an der | |
doppelten Zaunreihe vorbei, hinter der die Pkws auf dem Weg zur Fähre | |
kontrolliert werden. Der Zaun ist inzwischen zum unüberwindlichen Sperrwerk | |
ausgebaut. Militärjeeps stehen vor der Schlange, bewaffnete Soldaten | |
daneben. | |
## Nächtliche Suche nach einem Lkw | |
Sarah Arrom und ihre beiden Mitbewohnerinnen sind wieder einmal nach Calais | |
zurückgekommen, um zu tun, was in dieser Situation eben anfällt. Zwei von | |
ihnen wohnen eigentlich in Paris, die Dritte in Rennes. Weil seit Anfang | |
des Jahres immer mehr Migranten zurückkommen, begannen Freiwillige der | |
Gruppe Utopia 56 mit der Patrouille. Erst war es ein Auto, dann zwei, seit | |
Kurzem sind sie zu dritt. Die Notfallnummer bekommen alle Migranten. | |
Anders als sonst steuern an diesem Abend zwei Wagen einen Ort nahe dem | |
früheren „Dschungel“ an. Auf einer Brache sitzen etwa 30 Migranten | |
zusammen, die meisten junge Eritreer. Beständig strömen neue hinzu, | |
Grüppchen begrüßen sich mit herzlichen Umarmungen. Ein Stück Gemeinschaft, | |
zwischen Tagesversteck und nächtlicher Suche nach einem Lkw. | |
Es sind mehr Menschen hier als gewöhnlich, sagt Sarah Arrom. Einige sind | |
neu, wie vier Pakistaner, die nicht in England, sondern in Frankreich Asyl | |
beantragen wollen. In Paris fanden sie keine Unterkunft und übernachteten | |
auf der Straße. Jemand empfahl ihnen, es in Calais zu versuchen. Doch auch | |
hier gibt es in dieser Nacht nur das Wäldchen. „Die Eritreer schlafen dort, | |
also probieren wir es auch“, sagt einer der Männer. Mehr als einen | |
Schlafsack gibt es nicht gegen die Kälte, und der wird am Morgen feucht | |
sein. Oder gar gefroren. | |
Schon bald gesellt sich das dritte Auto hinzu. Die Mitglieder der | |
Patrouille beraten sich. Es ist dringend, denn am frühen Abend hat es einen | |
Zwischenfall gegeben. Einer der Jungen wurde aus einem roten Auto heraus im | |
Vorbeifahren beschossen, zum Glück aber nicht verletzt. Ein Mann mittleren | |
Alters soll darin gesessen haben. Sie vermuten, es könnte dasselbe Auto | |
sein, mit dem in der Gegend schon vor einiger Zeit Migranten gejagt und | |
bedroht wurden. | |
## Eine Wolke aus Tränengas | |
Weil die Nachfrage steigt, müssen Sarah Arrom und ihre Kolleginnen noch | |
einmal zum Warehouse und mehr Schlafsäcke und Jacken holen. Sie sind gerade | |
zurück, da gibt es ein neues Problem. Thomas, der am Mittag bei Secours | |
Catholiques war, taucht mit einem Freund auf, der sich die Hand vor das | |
Gesicht hält. | |
Der Freund, sagt Thomas, war auf der Rückseite des Wäldchens unterwegs, auf | |
der Suche nach einem Lkw, als ein Polizeiwagen vorbeifuhr und der Beifahrer | |
ihm aus nächster Nähe Tränengas ins Gesicht sprühte. Eine medizinisch | |
geschulte Helferin spült ihm die Augen aus und legt einen Lappen auf sein | |
Gesicht. In eine Rettungsdecke gehüllt, kauert der Mann reglos auf dem | |
Boden, gegen eines der Patrouillenautos gelehnt. | |
Es ist beinahe Mitternacht, und noch immer sitzen Migranten in Grüppchen | |
zwischen den Sträuchern. Einige haben eben versucht, auf einen Lkw zu | |
klettern. Ein lauter Ruf des Fahrers ließ sie mit hängenden Köpfen | |
zurückkehren. Es scheint alles fast so wie früher in Calais – nur dass es | |
dort hinten, einen Kilometer weiter, keinen „Dschungel“ mehr gibt. | |
22 Feb 2017 | |
## AUTOREN | |
Tobias Müller | |
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