| # taz.de -- Kolumne Globetrotter: Doofer „Defekt“-Aufkleber | |
| > In der U-Bahn macht unsere Autorin ihre Mitfahrer mehrfach auf eine | |
| > kaputte Tür aufmerksam. Niemand dankt es ihr – da kommt sie ins Grübeln. | |
| Bild: Wie ferngesteuert bewegen wir uns im perfekten Gleichschritt zur nächstg… | |
| Die U-Bahn fährt ein, die Türen öffnen sich. Während rechts und links | |
| bereits die Menschenmengen aus- und einsteigen, bewegt sich die Schlange | |
| vor mir keinen Zentimeter. Also hebe ich den Blick – und bemerke einen | |
| orange leuchtenden „Defekt“-Aufkleber an der Tür. Anscheinend kommt diese | |
| Info bei uns allen zeitgleich an, denn wie ferngesteuert bewegen wir uns im | |
| perfekten Gleichschritt zur nächstgelegenen Tür, wobei unsere ursprüngliche | |
| Formation gehalten wird. Im Abteil angelangt, lösen wir uns auf. | |
| Als Nächstes befinde ich mich auf der anderen Seite des | |
| „Defekt“-Aufklebers, sogar direkt dahinter. Ich kann so aus nächster Nähe | |
| beobachten, wie bei jeder folgenden Station weitere Neuankömmlinge stoisch | |
| an dem Knopf herumdrücken, bis sie schließlich, kurz vor Abfahrt, den | |
| Aufkleber entdecken. Abhängig von der Länge der Zeit, die an Tür und Knopf | |
| verbracht wird, meine ich durch die Glasscheiben hindurch Resignation zu | |
| spüren. | |
| Immer wenn mir ein ausreichender Grad an Hilflosigkeit erreicht scheint, | |
| fuchtele ich mit der Hand an der Glasscheibe herum, um die Aufmerksamkeit | |
| der Gegenüber vom Knopf abzulenken. Sobald sich ihr trüber Blick hebt, | |
| deute ich mit dem Zeigefinger in Richtung Aufkleber. Dass mein Nagellack in | |
| derselben orangefarbenen Farbe leuchtet, ist hilfreich. Dann geht immer | |
| alles superschnell: Die Personen entfernen sich von der kaputten Tür wie | |
| ein plötzlich anders gepolter Magnet – ohne Blickkontakt, ohne Lächeln, | |
| ohne Nicken oder gar Dank. | |
| Das bringt mich ins Grübeln. Es mag an der tagsüber üblichen | |
| Jeder-für-sich-Stimmung in der U-Bahn liegen (abends ist es wieder anders) | |
| oder an der Überflüssigkeit meiner gut gemeinten Pantomime (die Leute | |
| kommen auch alleine klar). Oder einfach daran, dass mein Gesicht sich genau | |
| hinter dem Aufkleber befindet, ich für sie also nur aus einer Hand bestehe. | |
| Egal, da ist meine Station, ich steige aus. | |
| ## „Weit schlimmere Folgen“ | |
| Ich treffe mich mit „den Fotografen“ (einer Clique, die nur aus | |
| FotografInnen besteht) bei einer Vernissage in Neukölln. Ich freue mich auf | |
| meinen Freund C., den ich lange nicht mehr gesehen habe. C. ist auch | |
| Franzose – und kennt an diesem Abend nur ein Thema. Sollte es in der | |
| zweiten Wahlrunde auf ein Rennen zwischen Marine Le Pen und François Fillon | |
| hinauslaufen, komme es für ihn überhaupt nicht in Frage, keine Stimme | |
| abzugeben. „Wenn die Prognosen wirklich stimmen sollten, dann werde ich | |
| meine Stimme diesem ultrakonservativen Lumpen Fillon geben.“ | |
| Unterscheiden sich beide wirklich so sehr voneinander, frage ich. „Le Pen | |
| als Präsidentin hätte weit schlimmere Folgen – nicht nur für Frankreich, | |
| sondern für Europa. Und die ganze Welt!“, sagt C. „Das würde ein ebenso | |
| falsches Zeichen wie der Brexit senden. Aus der nationalistischen Welle | |
| wird ein Tsunami und überall schießen Mauern wie Pilze aus dem Boden.“ | |
| Die Vernissage in der Fotofabrik ist gut besucht: Befreundete BelgierInnen, | |
| die den Ort vor etwa einem Jahr gegründet haben, laden in regelmäßigen | |
| Abständen je eine FotografIn aus Brüssel und Berlin ein, um sich durch eine | |
| gemeinsame Ausstellung zu begegnen. Persönlich und künstlerisch. Wie es der | |
| Zufall so will, sind diesmal beide KünstlerInnen weder deutsch noch | |
| belgisch. Für das kuratorische Konzept spielt die Nationalität keine Rolle, | |
| nur der Ort, wo man lebt. „Diese Denkweise in nationalen Identitäten ist | |
| sowieso total kaputt“, bekräftigt C. | |
| „Wir gehen Koreanisch essen, kommt ihr mit?“, fragt uns eine Bekannte. C. | |
| winkt ab. „Ich muss langsam nach Hause.“ Ich auch, und zwar mit der Bahn. | |
| 24 Feb 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Elise Graton | |
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