| # taz.de -- Grüne nach der Urwahl: Ein neues Verhältnis zur Gesellschaft | |
| > Mit den Parteireformern Özdemir und Habeck könnte die Aufteilung in | |
| > „Realos“ und „Linke“ enden. Das würde Chancen auf einen Neustart bie… | |
| Bild: Cem Özdemir im Juni 2016 in Schwerin | |
| Ein wirklich guter Partei- und Wählerkenner sagt, dass die | |
| Grünen-Mitglieder und Grünen-Wähler in ihrer Mehrheit „normale Menschen“ | |
| seien. Das mag für manche Berliner Funktionäre eine schlimme Nachricht | |
| sein, klingt nach baden-württembergischen Verhältnisse. | |
| Vielleicht ist es aber einfach so, dass Grünen-Mitglieder sich halt auch | |
| die Welt anschauen und Sorgen machen. Und es sind eben nicht mehr die | |
| Sorgen der 1990er Jahre. Und dann sehen sie den Parteichef Cem Özdemir im | |
| Fernsehen im Gestus des Staatsmannes verbal Kante zeigen. Gegen Putin, | |
| Erdoğan und den IS. Und denken nicht „Superrealo“ oder „super angepasst�… | |
| wie manche immer noch höhnen, sondern „ganz vernünftiger Typ“. So wie ich | |
| oder wie die Fraktionschefin und nunmehr zweite Grünen-Spitzenkandidatin | |
| Katrin Göring-Eckardt. Und vernünftige Spitzenpolitiker, das ist doch im | |
| internen Parteienvergleich schon mal was. | |
| Die Frage bleibt aber: Reicht das für die Grünen, und was machen sie | |
| daraus? | |
| Wenn sie nun etwas daraus machen, dann sollte das Ergebnis der Urwahl das | |
| offizielle Ende der grünen Aufteilung in „Realos“ und „Linke“ sein. De… | |
| weder haben die einen gesiegt noch die anderen verloren. Das alte interne | |
| Funktionärskarrieremodell für Oppositionskultur interessiert die | |
| Mitglieder nicht mehr. Die Welt draußen sowieso nicht. | |
| ## Neues Verhältnis zur Gesellschaft | |
| Der große Urwahlerfolg von Schleswig-Holsteins Vizeministerpräsident Robert | |
| Habeck, der ganze 0,2 Prozentpunkte hinter Özdemir auf dem zweiten Platz | |
| der parteiinternen Abstimmung landete, verdankt sich neben der Person | |
| seinem schleswig-holsteinischen Prinzip. Dieses kreist nicht um Lager, | |
| interne Flügel und Lobbypolitik, sondern ringt stattdessen um ein neues und | |
| egalitäres Verhältnis zur Gesellschaft. Neu ist daran die Auffassung, dass | |
| die Welt sich nicht zu den Grünen zu verhalten hat, sondern die Grünen sich | |
| zur Welt. | |
| Die Grünen wissen also nicht alles besser, sie haben aber Essenzielles | |
| beizutragen. Nicht allein Bioeier und Emanzipationssprüche, sondern auch | |
| die Linderung zentraler Probleme, die sich aktuell stellen. Und diese | |
| können die Grünen sich nicht aussuchen. Sie müssen auf gesellschaftliche | |
| Veränderungen reagieren und sich bewegen. Wenn man in den letzten Wochen | |
| genauer hinhörte, gerade was die Rhetorik der Mitbewerber anbetrifft, | |
| könnte man glauben, Habecks Modell der Erneuerung sei auch in Berlin | |
| angekommen. Ist es nicht. | |
| Aber offenbar bei den Mitgliedern. Das Votum von knapp zwei Dritteln der | |
| 61.000 Mitglieder, der minimale Abstand zwischen Fotofinishsieger Özdemir | |
| (35,9 Prozent) und Habeck (35,7) deute aber auch auf eine grundsätzliche | |
| Schwäche dieser Teilgesellschaft: Die Grünen tun sich immer noch schwer, | |
| klare Entscheidungen zu treffen. | |
| ## Neustart und Weiter-so-Bedürfnis | |
| Die Sehnsucht nach einem Neustart in der Bundespolitik sowie das | |
| milieuübergreifende Weiter-so-Bedürfnis stehen gleich stark nebeneinander. | |
| Die Welt könnte 2019 untergehen, doch manche Politikbeamte in der | |
| Grünen-Fraktion würden bis 2029 mit einer Kandidatur warten, weil sie dann | |
| erst „dran“ sind. Habeck dagegen kandidierte ohne Sicherheitsnetz, obwohl | |
| er nicht dran war. Weil es jetzt gilt. Das sehen offenbar viele Mitglieder | |
| auch so. | |
| Auf der anderen Seite scheint ihnen Özdemir die „sichere“ Wahl zu sein. | |
| Nicht nur der Kandidat, der dran ist. Sondern auch der, der zur Weltlage | |
| passt. So könnte man es sogar als Weisheit verstehen, den potenziellen | |
| Außenminister Özdemir in die mediale Arena zu schicken. Seine | |
| (Wieder)geburt wird parteiintern auf den Tag gelegt, als er den wahren Satz | |
| sagte, man könne den Terror des IS nicht mit Jogamatten bekämpfen. Seither | |
| wird er ernst genommen, auch in der richtigen Welt. | |
| Man könnte Spitzenkandidat Özdemir klassisch gesellschaftsliberal deuten, | |
| den Sohn türkischer Einwanderer zum europäischen Signal ausrufen. Das wäre | |
| mehr so Cohn-Bendit-Style. Oder kleingeistig: voll angepasst Richtung | |
| Schwarz-Grün. Das wäre Spiegel- oder Augstein-Kolumnen-Phrase. Alles von | |
| gestern. | |
| ## Respekt durch Blitzatomausstieg | |
| Dieses Jahr wird innenpolitisch geprägt von denen, die mit wütenden Rufen | |
| („Merkel muss weg“) in die Wahl ziehen; den Populisten der AfD, aber auch | |
| einigen in der Linkspartei. Grünen-Wähler haben indes eher positive Gefühle | |
| für die CDU-Kanzlerin, seit sie in zugespitzter Krisensituation im Herbst | |
| 2015 zeitweise die deutschen Grenzen für Flüchtlinge öffnen ließ. Respekt | |
| erwarb sie sich zuvor mit dem Blitzatomausstieg nach Fukushima. Jetzt | |
| gewann sie auch die grünen Herzen. | |
| Es ist eine seltsame Ironie der Geschichte, aber es ist so. Letztlich war | |
| ihre Humanität Politik unter Zeitdruck. Aber beide Seiten, Kritiker wie | |
| Befürworter, haben das mythisiert. Merkels reale Geflüchtestenpolitik | |
| spielt auf beiden Seiten keine so große Rolle. Merkel ist so für viele | |
| Grüne zum positiven Symbol der Verteidigung des Status quo geworden – auch | |
| wenn dies zukunftzerstörende Privilegien für asoziale Unternehmen | |
| beinhaltet – als Garantin einer offenen Gesellschaft, der EU und des | |
| Zusammenhalts des Westens im Zeitalter von Putin und Trump. | |
| Es gibt ein grundsätzliches Sicherheitsbedürfnis, ein Gefühl, dass die Lage | |
| ernst ist – und nur Angela Merkel den Tanz auf den Pulverfässern | |
| einigermaßen hinkriegen kann. Ob das wirklich so ist, spielt keine Rolle. | |
| Wenn sie unter dieser Fahne antritt und die C-Parteien sich wieder | |
| eingekriegt und eingereiht haben, dann wird Merkel schwer zu schlagen sein. | |
| Schon gar nicht von Parteien oder Politikern, die den Leuten ihr Sedativum | |
| des Vertrauens wegnehmen wollen. Da kriegen sie erst recht Angst. | |
| ## Endlich Kohleausstieg möglich machen | |
| Es geht bei der kommenden Bundestagswahl also wieder mal darum, ob die SPD | |
| erneut als Juniorpartner unterkriecht. Oder ob erstarkende neue Grüne die | |
| drohende Dauerkoalition unterbrechen, die sozialökologische Wende mit einem | |
| Machtprojekt verknüpfen und endlich den Kohleausstieg möglich machen, die | |
| sich aber vor allem als bessere Komplementäralternative zur Verteidigung | |
| der offenen Gesellschaft positionieren – im Land, in der EU, gegenüber der | |
| Türkei und dem Westen. | |
| Die Grünen müssen also – auch das ist Habeck – die SPD herausfordern, die | |
| liberalen unter deren Wählern ansprechen, denen die Partei in dieser | |
| Hinsicht nicht geheuer ist. Ebenso Unionswähler, denen die CSU nicht | |
| geheuer ist. Es würde aber auch schon helfen, sich nicht in | |
| gesellschaftsfernen Metadebatten zu verheddern, mit denen die neue | |
| Koalition im Land Berlin gerade ihre Zeit vergeudet. | |
| Robert Habeck könnte also der sein, der das Innen erneuert, als Partei- | |
| oder als Fraktionsvorsitzender. Cem Özdemir könnte der bekannte Grüne sein, | |
| dem die Gesellschaft vertraut. Aber wird die Partei so professionell und | |
| vertrauensvoll zu Özdemir stehen, dass er im Wahlkampf größer werden kann? | |
| Oder wird sie nicht doch lieber gegen den Ministerpräsidenten Kretschmann | |
| kämpfen? | |
| ## Regierungsfähige Verantwortlichkeit | |
| Und noch etwas wäre neben Geschlossenheit und einer gemeinsamen Haltung im | |
| Wahlkampf wichtig: den Ernst der Lage nicht mit Angstschweiß und Phrasen zu | |
| transportieren, sondern durch Leichtigkeit und authentische Rhetorik | |
| manches auch als zu bewältigen erscheinen zu lassen. Grüne | |
| Eigenständigkeit, gepaart mit regierungsfähiger Verantwortlichkeit. | |
| Wenn die Grünen als Partei allerdings davon selbst nicht überzeugt sind, | |
| dann wird es auch die Gesellschaft nicht sein. Sollten sie ihren alten | |
| Krempel durchziehen, dann werden viele verloren gehen. Gabriel baut fest | |
| darauf. Lindner auch. | |
| 24 Jan 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Peter Unfried | |
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