# taz.de -- Leipziger Initiative für Wohnungslose: Arztbesuch mit Lassie | |
> Viele Wohnungslose hängen an ihren Tieren. Werden diese krank, fehlt Geld | |
> für eine Behandlung. Abhilfe schafft da ein Leipziger Verein. | |
Bild: Lara von Lindeiner vom Verein „Bunter Hund“ mit Nico Möbius und sein… | |
LEIPZIG taz | Pfotenspuren neben Fußabdrücken weisen den Weg durch den | |
Schnee. Gelbe Spalten, die druckvoll in das Weiß hineingepinkelt wurden, | |
auch. Zwei Discounter verstellen den Blick auf das viel niedrigere, flache | |
Dach der Tierarztpraxis von Martina Menzel. Vor der Tür wartet eine Frau, | |
die sich so tief in die dunkle Ecke neben dem Eingang gedrückt hat, dass | |
sie beinahe mit ihr verschmilzt. Ihre gefärbten Haare sind ungekämmt, die | |
Augen ruhen in schwarzen Höhlen, eine brennende Zigarette zittert zwischen | |
ihren dünnen Fingern. Ihre Hündin, klein, schwarz-weiß und flauschig, rast | |
vor ihr auf und ab. Es scheint so, als hätte das Tier ihrer Besitzerin jede | |
Energie gestohlen. Die kann den schnellen Bewegungen kaum folgen. | |
Drinnen, im Wartezimmer: viele junge Frauen, zwei junge Männer ganz in | |
Schwarz, zwei Hunde, ein Tresen für die Anmeldung, darauf eine Schale mit | |
letzten Schoko-Weihnachtsmännern, eine Hundespardose, lautes Gebell. Es ist | |
Mittwoch, es ist 12 Uhr, und eigentlich hätte Tierärztin Martina Menzel | |
Pause. Erst am Nachmittag ist wieder Sprechstunde. Doch um kurz nach halb | |
eins schneit die kleine Frau herein, rubbelt sich weiße Flocken aus den | |
kurzen, blonden Haaren und zieht sich ein graues T-Shirt über, auf dem | |
[1][„Der bunte Hund“] steht. Auch die anderen Frauen ringsum tragen das | |
Shirt, sichtlich mit Stolz, und sie lächeln vorfreudig. | |
Jede Woche betreuen die Mitarbeiter*innen vom „Bunten Hund“ die Tiere von | |
Menschen, die sich eine gewöhnliche Tierarztbehandlung nicht leisten | |
können. Weil sie wohnungslos oder suchtkrank sind, manchmal auch beides. | |
Streetworker*innen, die mit den Betroffenen regelmäßig zusammenarbeiten und | |
ihre Tiere kennen, überweisen sie an die Praxen. Dorthin, wo dann zum | |
Beispiel Eva-Maria Stein wartet und sich um sie kümmert. Die 28-Jährige | |
studiert Tiermedizin und ist im Vorstand vom „Bunten Hund“. „Es geht vor | |
allem darum, eine Grund- und Notfallversorgung zu gewährleisten, impfen, | |
kastrieren, chippen“, erklärt sie. „Beim ‚Bunten Hund‘ haben alle ihre | |
Tiere unglaublich gern.“ Ihre großen Augen verengen sich, als sie lächelt. | |
„Die bleiben halt treu.“ | |
Ab dem ersten Semester können Studierende der Tiermedizin beim „Bunten | |
Hund“ mitmachen – sie organisieren die Sprechstunden, assistieren den | |
Tierärzt*innen bei den Behandlungen. Sechs Praxen in Leipzig unterstützen | |
das Projekt und wechseln sich wöchentlich ab. | |
## „Mehr Gedanken um Tiere als um sich selbst“ | |
In dieser Woche also Leipziger Westen, Grünau, Plattenbauten. Im | |
Wartezimmer von Martina Menzel sitzen Carlo und sein Freund Nico Möbius. | |
Beide haben ihre Jacken und Mützen nicht abgelegt, dick eingepackt rutschen | |
sie auf Stühlen herum, belegen gleich mehrere. Viel schwarzer Stoff umrahmt | |
ihre Gesichter, das ältere von Carlo mit Lachfalten und Drei-Tage-Bart, und | |
das jüngere von Nico mit einem Flaum auf der Oberlippe und einer Zahnspange | |
im Mund. Die Hundeleinen in ihren Händen verknoten sich permanent, denn | |
ihre Hunde sind aufgeregt, spüren, dass sie beim Arzt sind. Vor allem Nico | |
Möbius hat sichtlich damit zu tun, seinen Labrador-Mischling ruhig zu | |
halten. Boba, etwa kniehoch, das schwarze Fell mal weiß, mal beige betupft, | |
wird zum ersten Mal vollständig durchgecheckt. | |
Carlo sagt seinen Nachnamen nicht, „kennen mich eh“, sagt er stattdessen, | |
ohne zu erzählen, wen er meint. Seine Hündin Hera legt ihren Kopf mehrmals | |
freundlich in seine oder andere Hände. Carlo sagt, jetzt gerade laufe es | |
einfach nicht. „Kein Geld, keine Arbeit“, er stockt, guckt herausfordernd, | |
schiebt noch hinterher: „Wohnung sowieso nicht.“ Nico, 18, erzählt so etwas | |
von sich nicht, aber die Freunde sind sich einig: „Schon gut, dass es den | |
‚Bunten Hund‘ gibt“. Keiner der beiden spricht auch nur ein Wort zu viel, | |
doch das bisschen, was sie sagen, drückt viel Dankbarkeit aus. | |
Melanie Blochwitz ist Sozialarbeiterin und engagiert sich ehrenamtlich beim | |
„Bunten Hund“. „Die Menschen machen sich oft mehr Gedanken um Tiere als um | |
sich selbst“, sagt sie. Und Eva-Maria Stein kennt zahlreiche Geschichten | |
von Menschen, die Tiere aus schlechten Verhältnissen retten, obwohl sie | |
selbst kein Geld, dafür aber haufenweise Probleme haben. | |
## „Bei vielen ist das Tier der einzige Bindungspunkt“ | |
Ohne die Kooperation mit den Streetworker*innen und Sozialarbeiter*innen | |
läuft beim „Bunten Hund“ gar nichts. Die sollen entscheiden, welche Tiere | |
eine Behandlung nötig haben, und einschätzen, welche Besitzer*innen den | |
Termin tatsächlich wahrnehmen werden. „Oftmals haben die Leute Termine bei | |
uns Sozialbetreuern, zu denen sie nicht kommen, gehen zu den Terminen beim | |
Tierarzt aber sehr wohl“, erzählt Blochwitz. | |
Sie hat einen kurzen Pony, schwarz umrahmte Augen, schwarze Fingernägel. Ob | |
sie auch Carlo und Nico Möbius kennt? Blochwitz überlegt, Carlo sagt „vom | |
Sehen“ und nickt freundlich, Blochwitz hebt grüßend die Hand. Dann klettert | |
Hera auf Carlos Schoß, er drückt sein Gesicht in ihr glänzendes Fell, küsst | |
sie. „Sie gibt mir Kraft, und ich gebe ihr Kraft“, sagt er. Er meint | |
natürlich Hera, keine Sozialarbeiterin. | |
Martina Menzel ruft Nico Möbius und Boba ins Untersuchungszimmer. „Woher | |
haben Sie den?“, fragt sie. „Habe ihn gerettet.“ „Aus was für | |
Verhältnissen?“ „Leute, die ihn geschlagen und eingesperrt haben.“ „Wi… | |
war er, als Sie ihn gerettet haben?“ „Zehn Monate.“ „Wie alt ist er jet… | |
„Zehn Monate.“ Er merkt, dass sie auf eine weitere Information wartet, | |
nuschelt: „Habe ihn erst seit drei Wochen.“ Sein schwarzes Stirnband, die | |
Mütze und die Kapuze hat Möbius mittlerweile abgenommen, jetzt sieht er | |
noch jünger aus als 18. Er hievt Boba, der immer aufgeregter und nervöser | |
wird, auf den Untersuchungstisch. Während Boba geimpft und seine Temperatur | |
gemessen wird, versucht er, an Menzels Händen zu knabbern. „Gewöhnen Sie | |
ihm das bloß ab“, sagt sie schroff zu Möbius. Reumütig nickt er, wagt bei | |
der Tierärztin keine Widerworte. | |
Den „Bunten Hund“ gab es bereits in Dortmund und Berlin, | |
Tiermedizin-Studierende gründeten ihn 2011 auch in Leipzig. „Ich bin in der | |
Stadt geboren und aufgewachsen und habe früh gesehen, was es bedeutet, wenn | |
Menschen kein Geld für ihre Tiere haben“, sagt Eva-Maria Stein. Wie sie | |
darunter leiden, die Wohnungslosen, die Suchtkranken, die mit | |
schwerwiegenden psychologischen Problemen, wenn es ihrem Schützling nicht | |
gut geht. „Bei vielen ist das Tier der einzige Bindungspunkt. Das ganze | |
Leben hängt daran.“ Was etwa Hera ihrem Carlo bedeutet? „Alles“, sagt der | |
mit todernster Miene. Sie war da, als er aus dem Gefängnis kam, sie gibt | |
ihm jeden Tag Halt und Struktur. | |
Als Nico Möbius mit Boba aus dem Untersuchungszimmer kommt, begrüßen ihn | |
Carlo und Hera erfreut. Nico erzählt von Martina Menzels Mahnung, Boba das | |
Händeknabbern abzugewöhnen. „Na, und was sage ich dir seit zwei Wochen?!“, | |
empört sich Carlo. Als die vier die Praxis verlassen, folgt ihnen Martina | |
Menzels Blick. Sie sagt, nicht alle seien so zugänglich wie die beiden, und | |
erzählt von der Dame mit der schwarz-weißen Hündin, die noch immer vor der | |
Tür steht: „Für sie hatte ich eine Therapie organisiert, zu der sie | |
gemeinsam mit ihrer Hündin hätte hingehen können, die sie aber nicht | |
angetreten ist.“ Dann sei sie nicht mehr gekommen, habe sich geschämt. | |
„Aber jetzt ist ihre Hündin krank, da springt sie natürlich über ihren | |
Schatten.“ Streng, aber freundlich ruft sie sie in ihr Sprechzimmer. | |
23 Jan 2017 | |
## LINKS | |
[1] http://www.bunterhundleipzig.de/ | |
## AUTOREN | |
Hanna Voß | |
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