| # taz.de -- Ehemaliger Übersetzer der US-Armee: Nur ein gewisses Maß an Krieg | |
| > Hanif Frotan aus Afghanistan kündigte seinen Job, als ihm die Drohungen | |
| > zu viel wurden. Heute lebt er in Konstanz und hofft, dass er bleiben | |
| > darf. | |
| Bild: Übersetzer notwendig: US-Soldaten in einem afghanischen Dorf | |
| Der untere Schlossgarten ist eine Idylle mitten im feinstaubbelasteten | |
| Stuttgarter Kessel: Grüne Hügellandschaft, malerische Holzbrücken, daneben | |
| blubbert der Außenpool eines Schwimmbads. Mittendrin steht Hanif Frotan, er | |
| zieht die Schultern ein, hält seinen Rucksack dicht am Körper. | |
| Im vergangenen Jahr kamen rund 213.000 Afghanen auf illegalem Weg in die | |
| EU. Hanif Frotan war einer von ihnen. Er ist 25 Jahre alt und hat als | |
| Übersetzer fürs US-Militär gearbeitet. Dann schrieb er ein Buch über das | |
| Leben afghanischer Übersetzer. Als die Taliban ihn mehrmals mit dem Tod | |
| bedrohten, musste er das Land verlassen. | |
| In Brüssel haben sich im Oktober 70 Staaten auf 15,2 Milliarden US-Dollar | |
| für Afghanistan geeinigt. Mehr Geld in die zivile Entwicklungshilfe und: | |
| mehr Abschiebungen. Am Stuttgarter Schlosspark versammelten sich daraufhin | |
| mehr als 1.000 Afghanen zu einer Kundgebung. Auf ihren Plakaten stand: | |
| „Afghanistan ist kein sicherer Herkunftsstaat“ und „Keine Diskriminierung, | |
| Gleichbehandlung“. | |
| Viele junge Gesichter, viele besorgte Gesichter. Sie wollen nicht zurück in | |
| ein Land, in dem die Taliban kürzlich einen Überraschungsangriff starteten. | |
| In ein Land, in dem Hanif Frotan als Verräter gejagt wird. Was würde eine | |
| Abschiebung für ihn bedeuten? | |
| ## „Difficult to explain“ | |
| Frotan ist klein, schmächtig und hat einen kleinen Bauchansatz. Seine | |
| schwarzen Haare sind gegelt, er hat lange Koteletten. Er achtet darauf, | |
| dass ihm ein paar Strähnen locker ins Gesicht fallen, vorsichtig fährt er | |
| durch seine Frisur. Man schätzt ihn jünger, als er ist. Wenn er über die | |
| politische Lage in Afghanistan spricht, sprudeln die Worte aus ihm heraus. | |
| Wenn es um ihn geht, um seine Gefühle, seine Erlebnisse, ringt er um jedes | |
| einzelne Wort. Sein Blick ist traurig, er schließt die Augen und sagt Sätze | |
| wie: „It’s difficult to explain.“ Oft bricht er ab, zuckt mit den Lippen, | |
| raucht eine Zigarette und sagt, dass er schon viel zu lange raucht. | |
| Als er sich 2010 entschied, als Übersetzer für das US-Militär zu arbeiten, | |
| änderte sich das Leben des damals 19-Jährigen schlagartig. Zuvor lebte er | |
| mit seinen sieben Geschwistern und Eltern in der Provinz Kapisa, zwei | |
| Autostunden von Kabul entfernt. Er vermisst vor allem die Natur, sagt | |
| Frotan, die bergige, grüne Landschaft mit ihren Felsschluchten. Als Kinder | |
| waren sie viel schwimmen, haben in den umliegenden Seen gefischt und sind | |
| auf Hügel geklettert. Dann wurde Kapisa zu einem Ort, an dem die | |
| Mudschaheddin gegen die Taliban kämpften. | |
| Auch sein Vater kämpfte damals auf Seiten der Mudschaheddin gegen die | |
| Taliban, zuvor gegen die Russen. Nun entschied sich sein Sohn, Teil der | |
| Operation „Enduring Freedom“ („Operation andauernde Freiheit“) der | |
| Vereinigten Staaten zu werden, im Kampf gegen den Terrorismus. Er war | |
| zuversichtlich, motiviert, wollte in die Fußstapfen seines Vaters treten, | |
| sagt er. Viele seiner Verwandten hätten für die Freiheit Afghanistans ihr | |
| Leben gelassen. | |
| Ein Freund, der bei der US-Armee als Übersetzer arbeitete, riet ihm, sich | |
| zu bewerben. Es folgte ein Englischtest, er bestand ihn gleich beim ersten | |
| Versuch. Als er den Job bekam, erhielt die Familie in Kapisa einen Anruf: | |
| Entweder Hanif kündigt oder ihr bekommt Probleme. Seine Eltern hatten ihn | |
| zuvor gewarnt, sie ahnten, worauf sich ihr Sohn einlässt. Doch Frotan hatte | |
| seine Entscheidung getroffen. Die Familie zog zu ihrer eigenen Sicherheit | |
| nach Kabul. Sie hofften, dort unerkannt zu bleiben. | |
| ## In zweierlei Hinsicht: Kampf zwischen den Fronten | |
| Mit der Armee flog Frotan nach Helmland, dort lebte er mit den Soldaten, | |
| schlief neben ihnen, aß im gleichen Speisesaal, trug eine Schutzweste im | |
| Einsatz. Bisher kannte Frotan das militärische Umfeld nur aus | |
| Computerspielen. Auf einmal war er mittendrin: 40 Tage lang ohne Dusche, | |
| kalte Nächte im Schlafsack in der Wüste, tagelang in schweren Armeeschuhen. | |
| Zuvor hatte er US-Soldaten nur im Fernsehen gesehen, irgendwann merkte er, | |
| die sind gar nicht so anders, haben ähnliche Hoffnungen, Ängste, Ziele. Sie | |
| diskutierten viel, über Frauen in Burkas oder über Homosexualität. Frotan | |
| wunderte sich, dass so viele US-Soldaten etwas gegen Schwule hatten. Die | |
| Amerikaner wunderten sich, wie Burka-Trägerinnen es schaffen, ihre | |
| Ehemänner kennenzulernen. Ziemlich bald merkte Frotan, dass er in zweierlei | |
| Hinsicht zwischen den Fronten kämpfte: Die Soldaten waren ihm dankbar, die | |
| Afghanen hassten ihn. | |
| Wie könne er als stolzer Afghane auf der Seite der Ungläubigen stehen und | |
| sich damit gegen seine Religion und sein Land richten, hätten sie ihn | |
| gefragt. Frotan betont, dass nicht alle Afghanen so denken, nur die | |
| Radikalen. Aber davon gibt es einige. Wenn er mit den Soldaten unterwegs | |
| war, nannten sie ihn Spion, Verräter. Frotan arbeitete an der Front, wurde | |
| Zeuge von Selbstmordattentaten, Bombenexplosionen. Er sah abgetrennte | |
| Körperteile, Arme, Beine, Köpfe. Bis heute ist es eine Last, die er mit | |
| sich trägt. Es ist fast so, als würde man es seinem Gang anmerken. Er | |
| bewegt sich vorsichtig, schleichend, den Kopf hält er geduckt. | |
| Vor Kurzem war Frotan in Stuttgart unterwegs, er war gerade in der | |
| Stadtbahn, als ein Anruf von seinen Geschwistern kam. Er verstand nur | |
| Mutter, Bruder, Autounfall. Frotan rechnete mit dem Schlimmsten, er wurde | |
| panisch, tigerte durch die U-Bahn. Statt bei der nächsten Station | |
| auszusteigen, fuhr er eineinhalb Stunden durch Stuttgart. Erst als er am | |
| nächsten Tag seine Mutter auf dem Bildschirm sah, beruhigte er sich. Beide | |
| waren verletzt, aber sie lebten. Wenn er seine Familie beisammen sieht und | |
| sich dann in seinem leeren Zimmer in Konstanz, 180 Kilometer südlich von | |
| Stuttgart, umschaut, fragt er sich manchmal, ob es das alles wert war. | |
| „Aber ich hatte keine Wahl, entweder ich verlasse Afghanistan oder ich | |
| bleibe bei meiner Familie und werde getötet“, sagt er dann. | |
| ## Heilende Wirkung von tragischen Momenten | |
| In solchen Momenten versucht er sich an Heldengeschichten zu erinnern, um | |
| die Einsamkeit zu mildern. Er erinnert sich an Geschichten, die ihm das | |
| Gefühl geben, das Richtige getan zu haben. An der richtigen Seite gekämpft | |
| zu haben. | |
| Er erzählt die Geschichte von Christopher, einem US-Soldaten, an den er oft | |
| denke. Er soll afghanische Kinder beim Fußballspielen auf einem staubigen | |
| Platz beobachtet haben und daraufhin seine Eltern in den USA angeheuert | |
| haben, Geld zu sammeln für einen Fußballplatz. Frotan sagt, dass dieser | |
| Soldat helfen wollte, dass er den afghanischen Kindern einen unbeschwerten | |
| Ort schenken wollte. Irgendwann hatte Christophers Familie genug Geld | |
| beisammen und das Fußballfeld nahm Gestalt an. Nach Monaten war es endlich | |
| so weit: Am Tag der Eröffnung fuhr Christopher zur Einweihung. Auf dem Weg | |
| dorthin traf ihn eine Bombe. Christopher starb. | |
| So tragisch solche Momente auch sind, für Frotan haben sie eine heilende | |
| Wirkung, denn sie bewahren ihn vor Verbitterung und Reue. Viele Übersetzer | |
| beantragten damals ein Visum in die USA oder in einen EU-Staat, sagt | |
| Frotan. Für die Zeit nach der Armee. Auch er wollte in die USA auswandern. | |
| Er dachte, dass er dort gute Menschen kennenlernen würde, die ihm helfen. | |
| So wie er ihnen geholfen hat. Beim Übersetzen, beim Vermitteln, beim | |
| Verstehen. | |
| Ende 2012 gab Hanif Frotan seinen Job bei der Armee auf. Es wurde ihm zu | |
| viel. Er glaubt, dass Menschen nur ein gewisses Maß an Krieg ertragen | |
| können. Irgendwann machen sie zu, sie klappen zusammen, ihre Seele wird | |
| krank oder sie bleiben ein Leben lang verhärmt. Zurück in Kabul schrieb er | |
| ein Buch über afghanische Übersetzer. Der Titel: „The Unarmed Warriors“ | |
| („Krieger ohne Waffen“). Kein Verlag wollte das Buch drucken, es sei zu | |
| gefährlich. Er musste bezahlen, um das Buch bei einem afghanischen Verleger | |
| zu veröffentlichen. In dem Buch beschreibt Frotan den Idealismus, den | |
| Aufopferungswillen vieler Übersetzer, aber er sagt auch, dass viele von | |
| ihnen mittlerweile tot sind. Ein Freund von ihm, auch Übersetzer, wurde in | |
| seinem Auto von der Taliban beschossen. | |
| ## Drei Monate Flucht über Pakistan, Iran, Türkei | |
| Auch Frotan wurde immer heftiger bedroht: Anrufe, Briefe, Nachrichten über | |
| Social Media. Vor allem als Hanif Frotan zu einer kleinen Berühmtheit | |
| wurde: Er besucht Talkshows, wie den Ableger von „Voice of America“ auf | |
| Dari, um über sein Buch zu sprechen. Er sagt Sätze wie: „Ich glaube daran, | |
| das Richtige getan zu haben.“ Dann kam die Absage von der US-amerikanischen | |
| Botschaft. Er erhielt kein Visum. | |
| Die Aktion „Enduring Freedom“ war für ihn gescheitert. Es fiel ihm schwer, | |
| seine Heimat zu verlassen, sagt er, aber er fühlte sich zunehmend unsicher, | |
| mied öffentliche Plätze und traf dann die Entscheidung. Er schlug die | |
| Fluchtroute so vieler Flüchtlinge ein: über Pakistan in den Iran, von dort | |
| in die Türkei bis nach Deutschland. Drei Monate war er auf der Flucht. | |
| Heute lebt Frotan in Konstanz am Bodensee. Er hat eine dreijährige | |
| Aufenthaltserlaubnis, besucht einen Deutschkurs, möchte hier studieren. Wie | |
| es für ihn nach drei Jahren weitergeht, weiß Hanif Frotan nicht. Er glaubt | |
| nicht daran, dass die Taliban aus Afghanistan verschwinden. Wenn er | |
| abgeschoben wird, werden sie ihn finden. Da ist er sich sicher. Er seufzt, | |
| bricht ab, lässt den Blick über die Hügellandschaft schweifen. Frotan sagt, | |
| er leide seit einiger Zeit an Depressionen. Sein Kopf schmerze immerzu, | |
| seine Gedanken seien düster. Er ist in psychologischer Behandlung, nimmt | |
| Medikamente. | |
| Kurz vor Erscheinen des Artikels schreibt Frotan, dass sein Bruder bei | |
| einem Anschlag in Kabul getötet wurde. Er wurde 34 Jahre alt, war | |
| verheiratet und hinterlässt drei Kinder. Frotan sagt dazu: „I am trying to | |
| accept.“ | |
| 16 Jan 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Dunja Ramadan | |
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