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# taz.de -- Domians Abschiedsshow: Guten Morgen, gute Nacht
> Radio-Seelsorger Jürgen Domian half den Ratsuchenden – zwei Dekaden lang.
> Samstagmorgen telefonierte er zum letzten Mal.
Bild: Jürgen Domian hat von seinen AnruferInnen vor allem eins gelernt: Demut
Ich war acht und mein Radiowecker defekt. Aus diesem Grund sprang er nachts
manchmal an und weckte mich auf, einfach so. Das kleine Farbdisplay ließ
das dunkle Kinderzimmer dann blau glimmern, während sich eine ruhige
Männerstimme bedächtig ihren Weg aus den Boxen bahnte.
Die Stimme gehörte Jürgen Domian, der damals seit fünf Jahren einen
Telefontalk beim Radiosender 1Live hatte. Menschen konnten dort zwischen
ein und zwei Uhr anrufen, um mit dem Moderator über wechselnde Themen zu
reden. 21 Jahre lang. Samstagmorgen hatte der Kult-Seelsorger [1][seine
letzte Show].
Seit ihrer Erstausstrahlung im Jahr 1995 war die Sendung, und mit ihr
Domian, zu einer Institution geworden. Im WDR-Fernsehen, wo seine Sendung
zeitgleich übertragen wurde, schauten ihm jedes Mal 200.000 Menschen zu.
Pro Sendung riefen bis zu 20.000 Menschen an, von denen nur 150 durchkamen,
die dann von der Regie überprüft wurden. Am Ende landeten sechs, sieben von
ihnen bei Domian in seiner Show. [2][Edwin zum Beispiel], der sich einmal
pro Monat 60 Kilo Hackfleisch kaufte, Kostenpunkt 800 D-Mark, sie zu einer
Frau formte und sich dann damit vergnügte.
Aber nicht nur laute Schicksale behandelte Domian, auch leise. Immer wieder
sprachen Menschen bei ihm vor, die kraftlos waren, niemanden zum Reden
hatten oder Suizidgedanken.
Während der Zeit im Gymnasium hörte ich Domian gezielt. Nach
Basketballtraining und Hausaufgaben war es oft ein Uhr nachts, und ich ließ
mich von Domian in den Schlaf talken. Seine Stimme breitete sich im Zimmer
aus wie der Dampf bei einem Sauna-Aufguss, der durch die Luft wabert und
warm und weich den Körper umhüllt. Samstagnacht wärmte sie zum letzten Mal.
## Wiederhören mit Lydia
Das Potpourri der Anrufenden in der Abschiedssendung (das Thema war offen)
wirkte zwar orchestriert, aber sei's drum. Mit Lydia, 76, gab es für Domian
ein Wiederhören. Sie war vor Jahren schon einmal durchgekommen und
beichtete Domian damals von ihrem Friedhofsorgasmus: Nach dem Besuch am
Grab ihres Gatten traf sie einen Mann, auch Witwer, der sie zum Oralsex
einlud. Inmitten einiger Bäume befriedigte der Anzugträger Lydia oral. Ihr
O-Ton: „Sowas habe ich noch nicht erlebt“. Jetzt wollte sich Lydia von
Domian verabschieden.
LKW-Fahrer Klaus, 53, der es noch nie in die Leitung geschafft hatte,
bedankte sich dafür, „dass ich die vergangenen 15 Jahre nachts auf der
Autobahn nicht eingeschlafen bin“. Aus Melbourne rief Viktor bei Domian an,
der ihm seit 18 Jahren zuhört und es nun endlich in die Show schaffte.
Auch um Ernstes ging es bei Domians Abschied. Die Kriminalpsychologin Lydia
Bennecke lobte Domians Sichtweise auf die Dinge: „Fantasien sind nicht
böse. Nur Taten sind es“, sagte sie. „Danke, dass du den Menschen gezeigt
hast, dass sie mit ihren besonderen Eigenschaften nicht allein sind“.
Mit einem leiseren Schicksal wandte sich die Anruferin Ramona an Domian.
„Ich sitze jede Nacht allein hier und habe keinen zum Reden“, schluchzte
sie. Ihr Mann starb im April, die 14-jährige Tochter ist kaum noch zu
Hause, weil alles sie an Papa erinnert. Ramonas Frührente ist klein,
Geschenke gibt es dieses Jahr nicht. Domian hört der 46-Jährigen zu, fragt
nach, sucht nach Auswegen. Am Ende rät er ihr dazu, eine Trauergruppe
aufzusuchen und leitet sie weiter zu einer Psychologin aus seinem Team.
Domians KritikerInnen warfen dem Moderator Zeit seiner Karriere Anmaßung
vor und Voyeurismus, sagten, er operiere im juristischen Graubereich –
schließlich war er kein ausgebildeter Psychologe. Domian sagte, das müsse
er auch nicht sein. Er spreche mit den Menschen als Privatperson, nicht als
Experte. Am Samstagmorgen dankte er den Menschen aus seinem Team. In den 21
Jahren habe er von seinen AnruferInnen vor allem eins gelernt, wie er in
seinen knappen Abschiedsworten sagte: „Demut. Und dafür danke ich euch“.
Als Achtjähriger hörte es sich nachts im blau glimmernden Zimmer so an, als
könne Domian die Welt durch den Telefonhörer hindurch ein Stückchen besser
machen. Zumindest Hoffnung konnte er einigen traurigen AnruferInnen geben.
Stets hätte er zu Anfang seiner Show sagen können: „Guten Abend“. Oder:
„Gute Nacht“. Stattdessen sagte er: „Guten Morgen“.
17 Dec 2016
## LINKS
[1] https://www.youtube.com/watch?v=MY8n84T3MDU
[2] https://www.youtube.com/watch?v=lxqX7I_ZpnM
## AUTOREN
Yannick Ramsel
## TAGS
Seelsorge
Radio
Medien
Bibel
WDR
Film
Homosexualität
Schwerpunkt Meta
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