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# taz.de -- Debatte um sexualisierte Gewalt im Film: Besser als Butter
> In jedem achten Hollywoodfilm wird eine Frau vergewaltigt. So auch Maria
> Schneider in Bertoluccis „Der letzte Tango in Paris“. Was tun?
Bild: Maria Schneider in „Der letzte Tango in Paris“ aus dem Jahr 1972
Die Butterszene kannte ich lange, bevor ich zum ersten Mal den Film „Der
letzte Tango in Paris“ gesehen hatte. „Wie wäre es mit Butter?“ war, als
ich anfing, Sex zu haben, ein Synonym für „Möchtest du Analsex?“.
Inzwischen ist „Butter“ eher ein Synonym für Vergewaltigung – oder
zumindest sexuelle Nötigung – im Kino.
Rückblende: Paul (Marlon Brando) benutzt ein Stück Butter, um seine
Filmpartnerin Jeanne (Maria Schneider) anal zu vergewaltigen. In der
Realität nutzten Brando und Bernardo Bertolucci, der Regisseur von „Tango“,
die Butter zwar nicht, um in Schneiders Körper einzudringen, wohl aber in
ihre Psyche. Die Szene stand nicht im Drehbuch und Schneider erfuhr erst in
letzter Sekunde davon. Sie hatte also keine Möglichkeit mehr, zu
protestieren.
Der Gedanke, dass Schauspieler besonders überzeugend wirken, wenn sie die
dargestellte Situation auch wirklich erleben – besser bekannt unter dem
Namen Method Acting –, war weit verbreitet und galt keineswegs als
anstößig.
Höchstens als etwas manieriert: So bereitete sich Dustin Hoffman auf seine
Rolle in „Marathon Man“ mit Schlafentzug vor und kam zerrüttet in L.A. an,
wo ihm der britische Schauspieler, Regisseur und Produzent Laurence Olivier
den berühmten Tipp gab: „My dear boy, wie wäre es stattdessen mit
Schauspielern?“
## Traumatisiert
Tatsächlich war die Butterszene so überzeugend, dass Schneider Bertolucci
danach hasste [1][und 2007 in einem Interview erklärte, sie hätte sich „ein
wenig vergewaltigt“ gefühlt]. Das Interview ist instruktiv, weil es kaum
Beachtung fand, aber auch in Bezug darauf, wie es weiterging, nachdem die
Szene „im Kasten“ war.
Was macht man, wenn sich eine brillante Idee als brillanter Reinfall
herausstellt? Richtig, man ignoriert das Problem und unterlässt jede Form
von Hilfeleistung. Vielleicht aus schlechtem Gewissen? Vielleicht weil
Brando und Bertolucci selber verstört waren? So soll auch Marlon Brando von
den Dreharbeiten traumatisiert gewesen sein. Wir wissen es nicht.
Was wir wissen, ist, dass [2][Bertolucci 2013 in der Cinémathèque française
zu Schneiders Interview Stellung bezog] und auch das kaum Aufmerksamkeit
erregte – bis das Gespräch vor drei Wochen auf Facebook gepostet wurde und
viral ging.
Was finde ich daran am traurigsten? Dass Schneider nicht geglaubt wurde,
bis Bernardo ihre Geschichte bestätigte? Durchaus. Aber auch, dass es sein
Eingeständnis war, dass er sich noch immer schuldig fühlt, das den
Shitstorm auslöste. Was wäre passiert, wenn er sich nicht schuldig gefühlt
hätte? Wahrscheinlich herzlich wenig. Für die Butterszene wurde er berühmt,
aber für die menschliche Reaktion, sich schuldig zu fühlen, weil er einen
anderen Menschen nachhaltig verletzt hatte, erntet er Verachtung.
Das heißt natürlich nicht, dass wir jetzt alle um Bertolucci weinen müssen,
weil ihn die ganze Sache so sehr belastet. Darüber hinaus erklärte er in
dem selben Gespräch, dass er nach wie vor aus „künstlerischen“
Gesichtspunkten hinter seiner Entscheidung stünde, weil er Schneiders
Reaktion „as a girl not as an actress“ wollte. Dass ihre „echte Wut“ und
„echte Erniedrigung“ ihm wichtiger waren, als sie nicht zu erniedrigen.
## Bauernopfer
Trotzdem finde ich, dass die Diskussionen, ob wir jetzt nie wieder
Bertolucci-Filme schauen sollten, an der Sache vorbeigeht. Erstens ist es
selten hilfreich, ein Exempel zu statuieren, und zweitens wäre Bertolucci
lediglich ein Bauernopfer, das den Umgang der Filmindustrie mit
Vergewaltigung keineswegs ändern würde.
Was ich mir wünsche, ist ja eine Auseinandersetzung. Und wenn jemand
reflektiert – was Bertolucci anscheinend tut, wenn auch nicht mit dem
Ergebnis, das ich mir wünschen würde –, dann möchte ich diese Chance
nutzen.
Denn es ist keineswegs so, dass Vergewaltigung im Kino ansonsten eine
glorreiche Geschichte hätte. Das erste Mal, dass in einem
Mainstream-Hollywoodfilm – nachdem der puritanische Hays Codes nahezu jede
Sexualität verboten hatte – wieder eine nackte Brust gezeigt werden durfte,
war in „Der Pfandleiher“ von 1964.
Dass die Szene an der Zensur vorbeikam, lag daran, dass sie im Kontext
einer Vergewaltigung stattfand – und noch zynischer: einer Vergewaltigung
in einem Konzentrationslager.
## Gewalt sells
Ging es dem Regisseur um die Darstellung der Schrecken des Faschismus? Ja.
Aber in der Szene ging es ihm in erster Linie um die Brust. Sonst hätte er
sie genauso gut von hinten filmen können, wie seine Kameraleute
vorschlugen. Sex sells und Gewalt ebenso.
Als ich 13 Jahre alt war, waren die sexysten Frauen im deutschen Fernsehen
Vergewaltigungsopfer mit ihren zerfetzten roten Kleidern und riesigen
Pupillen. Mag die Aussage eines Films noch so sehr sein, wie schrecklich
Vergewaltigung ist, die Bildsprache sagt etwas anderes. Deswegen ist es so
schwierig, Antivergewaltigungsfilme zu drehen.
Erst im Oktober sorgte der Aufklärungs-Spot „Stop Rape“ – der
Landesarbeitsgemeinschaft der kommunalen Frauenbeauftragten
Baden-Württembergs in Kooperation mit der Hochschule für Technik,
Wirtschaft und Gestaltung Konstanz – für Proteste. Darin ging es mit bestem
Wissen und Gewissen um Aufklärungsarbeit.
Das Filmteam bestand aus mehr Frauen als Männern, die dargestellte
Vergewaltigung fand nicht in einer dunklen Seitenstraße, sondern in der
taghellen Küche des Opfers statt. Trotzdem unterschied sich das Ergebnis
visuell nicht wesentlich von der Butterszene im „Letzten Tango“.
## Blick auf die Täter
Zahlreiche Kinogänger*innen empfanden den Spot, der ohne Vorwarnung im
Werbeblock gezeigt wurde, als (re)traumatisierend. Als er kurz darauf
zurückgezogen wurde, fragte mich eine Interviewerin, wie ich ihn denn
gedreht hätte. Die Antwort bin ich – mit Ausnahme des grundsätzlichen
Wunsches, den Blick der Kamera nicht auf das Opfer, sondern auf den/die
Täter*in zu richten – noch immer schuldig.
Vielleicht geht es gar nicht um die Frage der „besseren“ oder der
„richtigen“ Darstellung von Vergewaltigung im Film, sondern darum, zu
reflektieren, warum wir mit einförmiger Regelmäßigkeit
Vergewaltigungsszenen zeigen, als gäbe es nicht genügend andere
Möglichkeiten, Drama zu erzeugen. Denn dadurch, dass wir eine
Vergewaltigung zeigen, reproduzieren wir sie – zumindest auf der visuellen
Ebene.
Ich würde Bertolucci gerne fragen, ob eine Frau sexuell zu demütigen
wirklich die originellste Idee war, auf die er kommen konnte? Oder ob es
vielleicht künstlerisch aufregendere Wege gegeben hätte, um das
komplizierte Verhältnis der Hauptfiguren zueinander darzustellen?
Laut der Historikerin Joanna Bourke schmückt sich – und ich benutze das
Verb bewusst – jeder 8. Hollywoodfilm mit einer Vergewaltigungsszene. Nun
ist es natürlich richtig und wichtig, Vergewaltigung nicht totzuschweigen.
Genauso wichtig ist allerdings, nicht so zu tun, als wäre Vergewaltigung
nun mal Teil des Repertoires menschlicher Umgangsformen.
## Der Sanyal-Test
Deshalb schlage ich analog zu dem Bechdel-Wallace-Test (der anhand von drei
simplen Fragen überprüft, ob weibliche Figuren in Filmen stereotypisiert
werden: 1. Gibt es mindestens zwei weibliche Rollen? 2. Sprechen sie
miteinander? und 3. über etwas anderes als einen Mann?) den Sanyal-Test vor
(oder wegen mir auch den Sanyal-Butter-Test), der ebenfalls drei Fragen
stellt:
1. Gibt es in dem Film eine Vergewaltigung (oder mehrere)?
2. Ist diese für die Handlung nicht unbedingt notwendig, sondern lediglich
eine Chiffre dafür, dass eine Figur eine emotional aufgeladene (Back-)Story
hat?
3. Gäbe es eine originellere Möglichkeit, den Plot voranzutreiben?
Wenn die Antwort auf diese Fragen Ja lautet, sollte die Szene aus dem
Filmskript gestrichen und stattdessen kreativer nachgedacht werden.
26 Dec 2016
## LINKS
[1] http://www.dailymail.co.uk/tvshowbiz/article-469646/I-felt-raped-Brando.html
[2] https://www.youtube.com/watch?v=021jNOEVytQ
## AUTOREN
Mithu Sanyal
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