# taz.de -- Autorin über Genitalien: "Die Vulva rettete die Welt" | |
> Einst verehrt, wurde das weibliche Genital auf ein Loch für den Penis | |
> reduziert. Die Vulva-Kulturgeschichte von M. Sanyal soll das ändern - ein | |
> Stück Popfeminismus. | |
Bild: Mehr als nur kein Penis - die Vulva. | |
taz: Frau Sanyal, das einzige Wort, das der Webster für das weibliche | |
Genital angibt, lautet Vagina. Die Vulva kennt er nicht. Sie sagen, das ist | |
ein Problem. Warum? | |
Mithu M. Sanyal: Weil ich glaube, dass wir über etwas, wofür wir keine | |
Worte haben, nicht reden und es uns auch nicht wirklich vorstellen können. | |
Die Vagina ist nur ein Teil des weiblichen Genitals, nämlich die | |
Körperöffnung, und umgekehrt würde ja niemand Hoden sagen, wenn er einen | |
Penis meint. Verblüffend ist doch, dass man bei Frauen diese | |
Fehlbezeichnung hinnimmt. | |
Hat das Auswirkungen auf die Wahrnehmung des Körpers? | |
Ja, was mich daran geärgert hat, ist, dass das lateinische Wort Vagina für | |
Scheide von Anatomen im 16. Jahrhundert deshalb gewählt worden ist, weil | |
sie sich überlegt haben, wofür das Ding gut ist: Das Ding ist dafür gut, | |
dass der Mann da sein Genital reinstecken kann. Man verglich die Vagina mit | |
einer Scheide für sein Schwert. Vor allem in der Populärkultur wird häufig | |
über das Genital der Frau als das Loch gesprochen. Das Genital wird nicht | |
als ein eigenes Geschlechtsgenital gedacht - was unter anderem auf Freud | |
zurückgeht -, sondern auf die Abwesenheit des Penis reduziert. Aber da ist | |
ja mehr, es gibt ja ein sichtbares weibliches Genital. Ich glaube, dass das | |
Abendland für alles Bilder braucht. Der Penis wird gleichgesetzt mit dem | |
Stift, dem Pinsel, der kreativen, aktiven Energie und das weibliche | |
Genital, die Vulva, die nicht existiert, mit Passivität, mit Annehmen, | |
Aufnehmen. Das ist die Kultur, mit der wir aufgewachsen sind. | |
In Ihrem Buch heißt es an einer Stelle, diese Leugnung der Vulva komme | |
einer Verstümmelung durch die Sprache statt mit dem Messer gleich. Ist das | |
nicht übertrieben? | |
Ja und nein. Wenn wir die Wörter nicht haben, erforschen wir die Dinge | |
medizinisch auch nicht. Wir rümpfen immer sehr die Nase über die bösen | |
Drittweltländer, die Genitalverstümmelungen vornehmen, aber wenn man genau | |
hinschaut, ist es doch so, dass in der schulmedizinischen Chirurgie | |
beispielsweise überhaupt nicht klar ist, welche Nerven Erregung von der | |
Vulva ins Gehirn weiterleiten. Darauf wird nicht geachtet. Mich hat | |
erschreckt, wie hoch die Zahl der Kaiser- und Dammschnitte in Europa ist. | |
Wie selbstverständlich man hier schneidet, hat ganz viel damit zu tun hat, | |
wie mit dem weiblichen Genital insgesamt umgegangen wird. Da wird was | |
durchtrennt und man weiß nicht genau, was. In der westlichen Welt, in den | |
USA, war die letzte Klitorisentfernung erst im Jahr 1948. Und noch in den | |
80er-Jahren war es üblich, bei Migräne und Depressionen den Uterus zu | |
entfernen. | |
In Ihrer Archäologie der Vulva zeigen Sie, dass die Vulva nicht immer nur | |
als Absenz des Penis definiert war. | |
Nein, die ältesten Darstellungen von Genitalien überhaupt sind Vulven. In | |
den Mythologien sämtlicher Kulturkreise findet man immer wieder | |
Geschichten, wie das selbstbestimmte Enthüllen der Vulva die Welt rettet, | |
den Teufel vertreibt, Städte rettet etc. Später, mit dem Sieg der | |
monotheistischen Religionen, wurde sie dann diffamiert, schließlich | |
verleugnet. | |
So wie das Wort Fotze im Englischen etymologisch von "heiliger Ort" zu | |
etwas absolut Verpöntem geworden ist. | |
Ja, ich bin beispielsweise immer damit aufgewachsen, dass man als Mädchen | |
gefährdet ist, vergewaltigt zu werden. Die Vorstellung war, dein Genital | |
ist das, was dich natürlich zu einem Opfer macht. Das bewirkte ein | |
Sichabwenden. Was absoluter Blödsinn ist, weil es ja nicht die Vulva ist, | |
die einen unterdrückt, sondern das, was damit potenziell getan wird. So | |
gesehen war das Affirmieren der eigenen sexuellen Kraft in vielen | |
feministischen Avantgardebewegungen eine Form des Zurückeroberns. | |
Sie beziehen sich da auf die Gegenkunst von Künstlerinnen wie Valie Export | |
und Annie Sprinkle in den 70er-Jahren, die, wie Sie schreiben, an der | |
Präsentation der Vulva den Kampf um die Definitionsgewalt über den | |
weiblichen Körper ausgetragen haben. Ist im Gegensatz dazu die aggressive | |
Darstellung von Weiblichkeit heute nicht gerade en vogue? | |
Annie Sprinkle hat gerade in Düsseldorf ihre Performance aus den frühen | |
Neunzigern, in der sie Menschen durch ein Spekulum ihren Muttermund | |
angucken ließ, wiederholt. Das hat interessanterweise funktioniert. Es hat | |
die Menschen nicht in derselben Form erschüttert wie damals, aber sie hat | |
es geschafft mit ihrem Sex-positive feminism einen ganz liebevollen Raum zu | |
erschaffen. Danach wurde anders gesprochen, ihre Performance war eine | |
Intervention, sie hat etwas verändert, sie hat die Kommunikation verändert. | |
Zu beobachten war an diesem Abend beispielsweise, dass die Leute danach | |
lange und sehr persönliche Gespräche geführt haben. | |
Charlotte Roche führt in ihrem Bestseller "Feuchtgebiete" eine Hauptfigur | |
vor, die ihre Vulva aufs Genaueste inspiziert. Wiederholt sie lediglich die | |
Pionierarbeit feministischer Gegenkunst? | |
Nein, ein Buch wie "Feuchtgebiete" hat noch Tabus gesprengt. Mir geht es | |
dabei nicht in erster Linie um die Provokation, sondern um die | |
Wertschätzung des weiblichen Genitals - dass es nicht als anrüchiges | |
Spektakel, sondern mit Wärme und Wertschätzung gezeigt werden kann. | |
Für den neueren Feminismus hat das biologische Geschlecht nicht unbedingt | |
etwas mit dem sozialen Geschlecht zu tun. Das scheinen Sie anders zu sehen. | |
Nein, das sehe ich genauso, aber der Punkt ist doch der, dass wir glauben, | |
in einer Welt der Zweigeschlechtlichkeit zu leben, was nicht stimmt. Wir | |
leben in einer Gesellschaft, die auf der Eingeschlechtlichkeit aufbaut. Ein | |
Geschlecht wird gesetzt, nämlich das männliche, und das weibliche wird als | |
Gegenfolie dazu entworfen: Die Frau ist nicht Mann, die Frau hat keinen | |
Penis, die Frau ist passiv, der Mann ist aktiv und so weiter. Mir ging es | |
überhaupt erst einmal darum, ein weiteres Konzept denkbar zu machen. Eines, | |
das nicht nur Gegenfolie ist. Sobald das denkbar ist, können auch alle | |
weiteren denkbar werden. Es geht darum, das Denken in Gegensatzpaaren | |
aufzubrechen. Denn bisher haben wir ja nur den Penis und das Nichts. | |
Es geht nicht um weiblichen Essenzialismus? | |
Nein, sobald die Vulva auch im Diskurs ist, funktioniert der Diskurs so | |
nicht mehr. | |
Auch der 70er-Jahre-Feminismus setzte an der Körperlichkeit an. Er | |
entdeckte die Klitoris wieder. | |
In den 70er-Jahren wurde immer gesagt, die Frau hat ein Organ, das allein | |
dafür da ist, Lustempfinden zu produzieren, nicht zur Reproduktion. Und | |
dadurch sei die Frau dem Mann erotisch überlegen. Inzwischen ist | |
medizinisch nachgewiesen, dass das so nicht stimmt, dass nämlich der | |
Schwellkörper beim Mann in Form und Struktur der Klitoris entspricht. | |
Und die männliche Klitoris wurde übersehen? | |
Ja, und deshalb kann der Mann durch die ganze feministische Forschung nur | |
gewinnen. Ich glaube, dass beide Geschlechter in derselben Form unterdrückt | |
werden. | |
Ist gegenwärtig nicht auch zu beobachten, wie sich das strikt Subjektive | |
als das Politische eines neuen Feminismus ausgibt und soziale | |
Machtverhältnisse im sogenannten Post- und Popfeminismus zunehmend verloren | |
gehen? | |
So, wie die neuen Vorstöße diskutiert werden, stimmt das. Ich glaube aber, | |
das beruht auf einem Missverständnis. Das Buch "Wir Alphamädchen" | |
beispielsweise nimmt in einigen wichtigen Punkten dieselbe Position wie die | |
80er-Jahre-Feministinnen ein, da geht es um Lohnvergleiche etc. plus ein | |
paar neue Debatten. Ich stehe gewissermaßen zwischen den neuen und den | |
alten Feministinnen - von der Generation her und weil ich mich beiden | |
zugehörig fühle. Ich glaube, die inhaltlichen Differenzen sind gar nicht so | |
groß, es gibt nur große Berührungsängste auf beiden Seiten. Es ist ein | |
anderer Lifestyle, auch in dem Sinne, dass man andere Ausdrucksweisen hat, | |
durch die dann Missverständnisse entstehen. Alice Schwarzer ist nicht der | |
Feminismus. Es gibt ein paar neue Themen, die heute von einer größeren | |
Gruppe besprochen werden. | |
Was sind die konkreten Themen im feministischen Diskurs, die verstärkt | |
diskutiert werden müssen? | |
Körperpolitik und das Verhältnis zum Islam beispielsweise. Alice Schwarzer | |
grenzt sich ja in der Diskussion um das Kopftuch massiv ab und findet das | |
Kopftuch ganz schlimm. Hier wird von anderen, Jüngeren der Versuch gemacht, | |
noch mal anders und differenzierter draufzuschauen. Zum anderen wird die | |
Designervagina in der Debatte bleiben - die im Übrigen, wie etwa über lange | |
und kurze Schamlippen bei schwarzen oder weißen Frauen gesprochen wird, | |
einen rassistischen Unterton hat. Und es könnte zunehmend um die | |
Auseinandersetzung mit feministischem Porno gehen. Ich gehe davon aus, dass | |
es bei Porno nicht um die Darstellung von Sexualität, sondern um die | |
Darstellung von sexuellen Fantasien geht, durch die wir auch Kultur | |
gestalten. Dabei geht es auch um die Frage eines positiven Verhältnisses | |
zur eigenen Sexualität. Das ist ein Bereich der Kulturproduktion, der den | |
meisten Frauen verschlossen ist. In Deutschland existieren noch große | |
Ängste, überhaupt über Themen zu sprechen, die nicht von vornherein als | |
gute feministische Themen etikettiert sind. Dabei müssen politische Themen | |
auch Freude bereiten. Daraus entstehen dann immer wieder neue Themen. | |
3 Mar 2009 | |
## AUTOREN | |
Tania Martini | |
Tania Martini | |
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Geschlechter | |
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