Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Einkaufsbummel auf Reisen: Das Frederick-Experiment
> Shoppingmalls galten lange Zeit als Symbol der US-Konsumkultur. Doch
> immer mehr Einkaufszentren schließen ihre Pforten.
Bild: Big Show in der Mall: eine moderne Version des Ballets der Nußknacker zu…
Frederick ist eigentlich nicht der Rede wert. 65.000 Menschen wohnen in der
Provinzstadt, dort, wo die Ausläufer der Appalachen ins hügelige Weinland
am Potomac River übergehen. Die Schulen sind der größte Arbeitgeber.
US-Amerikaner fahren meistens hierher, um die nahen Schauplätze des
Bürgerkrieges in Antietam oder Gettysburg zu besuchen. Der Horrorfilm
„Blair Witch Project“ wurde in der Umgebung gedreht und viele
US-Präsidenten machen im nahen Camp David Urlaub.
Doch gerade weil Frederick auf den ersten Blick so durchschnittlich wirkt,
ist ein Spaziergang durch seine überschaubare Innenstadt besonders
lehrreich. Die Stadt nämlich ist ein ungeplantes Freiluftexperimentierfeld
für eine Entwicklung, die derzeit die USA mehr verändert als mancher
US-Präsident. Letzten Monat erst haben Arbeiter hier ein Einkaufszentrum
abgerissen. Und in der verbliebenen Francis Scott Key Mall am Stadtrand –
benannt nach dem Autor der US-Nationalhymne, der auf dem
Drive-through-Friedhof von Frederick begraben liegt – herrscht an einem
Samstagmittag gespenstische Leere.
Frederick ist kein Einzelfall: Ließen in der Zeit von 1955 bis 2005 im
ganzen Land 1.500 neue Einkaufszentren viele Innenstädte veröden, so hat
die Entwicklung mittlerweile offenbar ihren Zenit längst überschritten. Die
Immobilienmarktexperten von Green Street Advisors gehen davon aus, dass 15
Prozent der Zentren bis zum Ende des Jahrzehnts schließen. Branchenexperte
Howard Davidowitz sieht sogar jede zweite Mall scheitern. Das Internet ist
noch bequemer als ein klimatisierter All-in-Einkaufstempel mit
Riesenparkhaus.
## Die Leute wollen nach draußen
„Aber das Internet ist daran nicht allein schuld. Die Leute wollen wieder
nach draußen. Und sie wollen Beratung und Anregung und dass ihr Geld in der
Gemeinde bleibt“, sagt Tom England und öffnet die Tür zum Dancing Bear,
seinem Spielwarengeschäft in der Patrick Street von Frederick.
Ist das ein Feuerwehrhelm, der da verkehrt herum auf dem Fußboden kullert?
Tom England möchte sich nicht festlegen. „Das denken die meisten zuerst
wegen der roten Farbe“, sagt der Geschäftsmann.
„Sehen Sie, man könnte das Ding auch als Obstkorb benutzen oder eine
Spielzeugeisenbahn drunter durchfahren lassen. Dann wäre es ein Tunnel“,
überlegt Tom weiter und dreht das Spielzeug nun mit gespielter
Unschlüssigkeit in den Händen. „Machen Sie damit doch, was Sie wollen.“ Im
Internet lässt sich so lchein Spielzeug freilich nicht verkaufen. „Das muss
man anfassen, anschauen und ausprobieren“, findet Tom. Seit 16 Jahren ist
genau das sein Geschäftsmodell. Damals machte sich der Pharmazeut im
Staatsdienst mit seinem Laden selbstständig. Dinosaurierfiguren von
Schleich, Stofftiere, Handpuppen, Brettspiele, Devilsticks zum Jonglieren –
alles persönlich getestet und garantiert ohne Batterien – sind im Angebot.
„Spielcomputer sagen: Drücke eine Taste. Dann passiert etwas. Das macht
doch nicht kreativ“, erklärt Tom seine Einstellung. Und damit ist er nicht
mehr allein: „Hier kommen viele Eltern mit leuchtenden Augen rein. Die
erleben ihre eigene Kindheit nach. Und die Kinder schätzen auch das, was
ihre Eltern mögen“, lässt Tom nun eine Handpuppe in Gestalt eines
Fischotters sagen und grinst dazu. Jüngst ist er mit seinen neun
Angestellten in ein größeres Ladenlokal umgezogen.
Ist Tom England ein Träumer auf der vergeblichen Suche nach der guten alten
Zeit? 7.000 privat geführte Spielwarengeschäfte gebe es inzwischen
landesweit, schätzt er. Sie seien gut vernetzt und hülfen sich mit Tipps
und gemeinsamen Einkäufen. Auch in der Stadt hat Tom längst Verstärkung.
Tritt man wieder aus seinem Laden, dann fällt der Blick auf gepflegte
Häuser mit Giebeln und Schmuckputz, einige haben geschmiedete Geländer,
viele noch aus dem vorletzten Jahrhundert.
## Die Geschäfte laufen blendend
Ein Bestattungswagen steht am Bordstein. Auf der Rückseite wirbt das
Gefährt etwas morbide für „Cakes to die for“ – eine lokale Konditorei.
Nebenan bewirbt jemand mit Malkreide auf dem Bordstein die 60 Sorten
Olivenöl in seinem Feinkostgeschäft. Bei „Zoe’s“ gibt es dicke
Schokoladentrüffel aus eigener Herstellung. Die passten auch erstaunlich
gut zu den Bieren aus der lokalen „Flying Dog“-Brauerei, meint die
Angestellte. Wenige Schritte weiter hat vor zehn Monaten Sharon Crisafulli
im Alter von 50 Jahren ihren Käseladen eröffnet. Anders als all die
Walmarts und Safeways verkauft sie Käse nicht nur eingeschweißt, sondern
frisch aufgeschnitten und nach persönlicher Beratung.
Rohmilchkäse, Ziegengouda, französischen Blauschimmel – Sharons Kunden, die
bislang nur gefärbten Cheddar und Philadelphia kannten, entdecken ständig
Neues. In Seminaren und bei Verkostungen bringt die ehemalige
Immobilienmaklerin ihre Kundschaft auf den Geschmack – Mutter Betty, 81,
und Tochter Catlin, 22, helfen. Billig ist ihr Angebot nicht, „aber die
Geschäfte laufen blendend“.
Um Kunden muss sich auch Michelle Schaffer mit ihrem nostalgischen
Soda-Pop-Shop keine Sorgen machen. 400 Sorten Limonade stehen in kleinen
Glasflaschen in den Regalen zur Auswahl, importiert aus Australien, Japan,
Kanada und Europa, aber auch von Herstellern aus der Region. Zitrusfrische,
Beerencocktail, für mutige Genießer spülmittelblauen „Toxic Slime“ mit
Blaubeer-Orangen-Geschmack hat Michelle vorrätig, aber auch fragwürdige
Speck-Schoko-Brause und „Leninade“ mit Hammer und Sichel auf der Packung
und Wodkaanteil in der Erdbeerlimo. Dazu bestellt das zahlreiche,
jugendliche Publikum frische Hot Dogs und Eiscreme eines lokalen
Herstellers. Wer braucht da noch McDonald’s, Subway oder die anderen
Ketten? Die halten sich in Frederick nur an den Ausfallstraßen. Lediglich
eine Starbucks-Filiale hat im Stadtzentrum Fuß gefasst.
Selbst ein inhabergeführter Buchladen mit dem lustigen Namen „Neugieriger
Leguan“ hat vor einem Jahr wieder in Frederick eröffnet. „Die Leute kamen
mit Tränen in den Augen zu uns, weil es das zehn Jahre lang nicht mehr
gab“, sagt Marlene England, die den Jubel ihres Gatten über sein Spielzeug
nicht mehr ertragen konnte. Klar machten die Filialisten wie Barnes &
Nobles ihr Geschäft und in vielen Haushalten lägen E-Reader. „Zu uns kommen
aber selbst Studenten, die wieder Hardcover kaufen, weil sie nach dem Tag
in der Uni in ihrer Freizeit wieder etwas Gedrucktes in die Hand nehmen
wollen.“ Die Zukunft des gedruckten Buches habe gerade erst begonnen,
glaubt Marlene und selbst die lokale Zeitung habe gerade ein neues
Headquarter bezogen.
## Obstbauer inclusive
Der Branchenmix aus Mode, Konsum und speziellen Lebensmitteln lockt
inzwischen auch andere an. Marriot renoviert das alte Straßenbahndepot
denkmalgerecht für ein erstes Innenstadthotel. Nach einer Gesetzesänderung
wollen ein paar Freunde im Sommer eine kleine Whiskey-Destille eröffnen.
Und in ein altes Autohaus ist ein Burgerladen für Feinschmecker eingezogen.
Dabei bekommt auch die lokale Produktion zunehmend mehr Aufmerksamkeit.
Eine Stunde Autofahrt nehmen Leute aus der Hauptstadt Washington in Kauf,
um bei Obstbauer Bob Black vor den Toren Fredericks Äpfel oder Erdbeeren
selbst zu pflücken.
„Wir haben das letztes Jahr erstmals angeboten. Die haben uns völlig
überrannt. Sie kamen selbst bei strömendem Regen“, sagt Black mit einem
Korb Pink Lady aus dem Kühlhaus und seinem jüngsten Sohn Eves auf dem
Schoß. In seinem Hofladen bietet Black je nach Saison Birnen, Pflaumen,
Kirschen, Beeren, Aprikosen, Kohl, Salat, Kartoffeln und zwölf Sorten
Pfeffer an. Demnächst will er auf einem Hang noch Weintrauben anbauen.
Für eilige Köche gibt es „Friendship Soup“ mit Gemüse, Nudeln und
Brühepulver getrocknet im Glas oder die besonders beliebten backfertigen
Apple-Pies, frisch in der Aluschale. Gedüngt wird mit Kompost von Bauern
aus der Region und gespritzt überhaupt nicht. Klingt nach Sozialromantik
angesichts der industrialisierten Landwirtschaft? Black sieht sich als
Geschäftsmann. „Vielfalt ist unser Überlebensrezept“, sagt er. „Die
Kirschen sind uns dieses Jahr erfroren, aber die Äpfel entwickeln sich
gut.“
17 Dec 2016
## AUTOREN
Martin Wein
## TAGS
Einkaufszentrum
Reiseland USA
Trend
Bio
Lesestück Recherche und Reportage
Lebensmittelverschwendung
## ARTIKEL ZUM THEMA
Alternative Geschenke finden: Der vegane Weihnachtsbummel
In Berlin gibt es rund 80 konventionelle Weihnachtsmärkte. Nachhaltige wie
der Anti-Christmas Market am Sonntag bieten eine gute Alternative.
Der König der Berliner Malls: Im Shopping-Imperium
Harald Huth hat den Einzelhandel in Berlin mit seinen Malls verändert. Wer
ist der öffentlichkeitsscheue Investor? Eine Spurensuche.
Gemüse mit Schönheitsfehlern: Krumme Geschäfte
Muss Gemüse perfekt sein? Nein, findet die Münchner Firma Etepetete. Sie
vertreibt nicht marktkonformes Biogemüse in Ökokisten.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.