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# taz.de -- Ältestes Kino der Westbank macht dicht: Der letzte Vorhang
> Mit großen Hoffnungen ist vor sechs Jahren das Cinema Jenin wieder
> eröffnet worden. Jetzt muss es einem Einkaufszentrum weichen.
Bild: Shoppen statt gucken: Aus dem Cinema Jenin soll eine Shopping-Mall werden
Dschenin taz | Die letzte Vorstellung war erstaunlich gut besucht. 65
arabisch-israelische Frauen waren eigens aus Nazareth gekommen, um „The
Arab Idol“ zu sehen, einen Film über den „Superstar“ aus Gaza. Er handelt
von einem jungen Palästinenser, der vor drei Jahren überraschend die
arabische Castingshow gewonnen hatte.
Lamai Asir schließt die Tür ab, als die Frauen nach der Vorstellung in die
wartenden Busse vor dem Kino steigen. „Wir hätten mehr Zeit gebraucht“,
sagt er traurig. Das Haus, das einst sein Vater zur Filmbühne machte, wird
nun abgerissen. Noch ein paar Monate mehr, glaubt er, „und wir hätten eine
Lösung gefunden.“ Asir hoffte auf einen öffentlichen Träger. Das Grundstü…
liegt im Zentrum von Dschenin, schräg gegenüber vom Busbahnhof. Der neue
Eigentümer will anstelle des Kinos ein Einkaufszentrum errichten.
Dabei gab es große Pläne für das Cinema Jenin, als es im Sommer 2010
wiedereröffnet wurde. Eine Filmschule sollte im Kino entstehen, das
Dschenin zur Medienstadt Palästinas machen würde, ein Kulturzentrum und
eine Bühne für Gastspiele aus dem gesamten Westjordanland.
Zuletzt standen noch ein Konzert des Al-Kamandschati-Orchesters aus
Ramallah auf dem Programm und der Auftritt einer Zirkusschule. Trotzdem
blieb das Projekt weit hinter den Erwartungen zurück, die den deutschen
Filmemacher Marcus Vetter und seine Frau Annette Burchard dazu antrieben,
sich für die Renovierung des alten Kinos einzusetzen.
## Hochburg des Widerstands
„Die Stadt war von Intifada und Blut geprägt, als wir kamen“, erinnert sich
Burchard. „Die Leute reichten uns Kaffee durch den Türspalt, solche Angst
hatten sie.“ Vetter drehte damals seinen Dokumentarfilm „Das Herz von
Jenin“ über einen Jungen, der erschossen wurde, weil israelische Soldaten
sein Plastikgewehr für ein echtes hielten. Im Zentrum des Films stehen der
Vater des Jungen und seine Entscheidung, die Organe zu spenden – an
Israelis.
Als Vetter seinen Film in Dschenin zeigen will und erkennt, dass es keine
Möglichkeit gibt, beschließt er, dafür zu sorgen, dass das alte Kino wieder
geöffnet wird. 25 Jahre zuvor hatte die Filmbühne schließen müssen wegen
der Kämpfe in der Stadt zwischen palästinensischen Besatzungsgegnern und
israelischen Soldaten. Dschenin, ganz im Norden des Westjordanlandes, galt
jahrelang als Hochburg des gewaltvollen palästinensischen Widerstands.
Das Ehepaar Vetter-Burchard mobilisierte Spenden und freiwillige Helfer.
120.000 Euro überwies das Bundesaußenministerium für die digitale
Anzeigentafel an der Hausfront. Im Haus neben dem Kino wurde eigens eine
Jugendherberge eingerichtet für die jungen Deutschen, die zeitweilig in
Scharen einflogen, um für die gute Sache Steine zu schleppen und Wände zu
streichen. Inzwischen blättert die Farbe von den bunten Schildern ab, die
den Weg zum Garten weisen, wo einst ein kleiner Stand Softdrinks und
Süßigkeiten bereithielt, und wo es schon lange keine
Open-Air-Filmvorführungen mehr gegeben hat. Schutt und ein toter Vogel
liegen auf dem Weg.
## Ein Ort für alle
Im Grunde sei es schon ein Wunder gewesen, das alte Haus überhaupt wieder
öffnen zu können, sagt Burchard, enttäuscht darüber, dass es den
palästinensischen Partnern nicht gelungen sei, das Projekt irgendwann
allein zu finanzieren. „Gute Filme kosten natürlich Geld, aber mit dem
richtigen Management hätte das funktionieren müssen.“ Ihre Hoffnung war,
die Stadt wieder lebendiger werden zu lassen. Im Cinema Jenin sollten „alle
Menschen zusammenkommen, Familien, Männer, Frauen, Behinderte“, sagt
Burchard. Noch im letzten Jahr sammelte das Ehepaar 50.000 Euro für die
laufenden Kosten. „Wenn man von Anfang an so viel Geld in ein Projekt
steckt, dann verstehen die Leute nicht, dass danach kein Geld mehr da ist.“
Das Kino hätte sich früher oder später selbst tragen sollen. „Irgendwann
muss man sein Kind auch mal entlassen.“
Lamei Asir schüttelt den Kopf. Kaum eine Vorstellung lockte mehr als ein
Dutzend Zuschauer. Die Kosten für Hollywood-Produktionen „hätten wir nie
wieder einspielen können“, also liefen arabische Filme und Filme, die das
Goethe-Institut zur Verfügung stellte, das im Haus nebenan eine kleine
Zweigstelle unterhält. Asir macht das Internet und Kabelfernsehen für das
mangelnde Interesse verantwortlich. „Heute kann sich jeder jeden Film
umsonst runterladen.“
Für den etwas über 60-Jährigen endet mit der Schließung vom Cinema Jenin
ein Stück eigene Familiengeschichte. Ende 1958 erstand sein Vater das Haus
im Stadtzentrum, um ein Filmtheater zu eröffnen. Bis zu vier Vorstellungen
gab es täglich, und „alle waren immer gut besucht“, sagt Asir. 500,
manchmal sogar 700 Zuschauer saßen in seiner Kindheit im Saal, wenn ein
neuer Kinofilm anlief. „Die Brücke am Kwai“ von David Lean, ägyptische
Familienkomödien und später auch indische Abenteuerfilme. „Ich war jeden
Tag hier.“
## Ein Stück Stadtgeschichte
Das Cinema Jenin ist das älteste Kino in den Palästinensergebieten. „Wir
reden hier von einem historischen Haus“, sagt Asir, „von einem Stück
Stadtgeschichte.“ Der sympathische Arzt mit Schnauzbart und grauen Locken
ist nur einer von insgesamt 33 Eigentümern. Sein Vater konnte allein nicht
genug Geld aufbringen, als er die Villa vis-à-vis der katholischen Kirche
im Stadtzentrum kaufen wollte. Aus den anfangs vier Hauseigentümern sind
über Erbengemeinschaften inzwischen 33 geworden.
Für Mustafa Shita, den Generalsekretär des Freedom Theatre im
Flüchtlingslager von Dschenin, liegt genau hier das Problem. „Wir hätten
uns gewünscht, dass das Cinema wirklich zu einem Zentrum für die Leute hier
wird“, sagt er. „Aber das war nicht so. Es war kommerziell.“
Die Eigentümer wollten Profite sehen. Per Mehrheitsentscheid stimmten sie
im August für den Verkauf des Hauses, sollte das Kino bis Ende Oktober
keinen Finanzier gefunden haben. Shita tue es leid, dass das historische
Gebäude nun den Bulldozern zum Opfer fallen soll. Die Idee, dass das
palästinensische Kulturministerium das Kino subventionieren würde, findet
er naiv. „In Ramallah gibt es für Kultur kein Budget.“
Das Freedom Theatre finanziert sich zwar wie das Cinema Jenin überwiegend
mithilfe von Spenden aus dem Ausland. Die anfängliche Idee kam jedoch aus
der Bevölkerung. „Unser Theater ist eine Graswurzel-Initiative“, sagt
Shita. Das Theater war zuerst da, erst dann kamen die Spenden. Ihr Ziel sei
es, palästinensische Jugendliche und Frauen durch das Schauspiel
selbstbewusster und stärker werden zu lassen. Das Projekt startete während
der Ersten Intifada in den 80er Jahren. Das alte Theater wurde während der
Invasion des israelischen Militärs 2002 zerstört und vier Jahre später neu
eröffnet.
## Gegen Normalisierung mit Israel
„Uns geht es auch um die Kritik an unserer Führung, an Israel und manchmal
auch gegen die eigene Tradition“, erklärt Shita. Das Cinema Jenin habe
diese Herausforderung nie angenommen, nie eine politische Agenda verfolgt.
„Wir im Theater stehen für einen kulturellen Widerstand“, sagt der
Generaldirektor. „Das Kino war immer ein Ort der Unterhaltung.“ Dass die
Initiative für die Wiedereröffnung aus dem Ausland kam, wäre nicht zum
Problem geworden, „wenn Marcus [Vetter] die Leute aus Dschenin mehr
einbezogen hätte“. Stattdessen wollte er das Cinema Jenin in „Friedenskino…
umbenennen, was Widerstand auslöste. „Wir sind gegen jede Normalisierung
mit Israel.“
Schon wenige Monate nach Wiedereröffnung des Cinema Jenin gab es einen
Brandanschlag auf das Gästehaus. Kritiker protestierten gegen das Programm,
auf dem Filme arabisch-israelischer Regisseure standen und das damit „zu
proisraelisch“ sei. Außer dem Freedom Theatre bleibt mit der Schließung des
Kinos jetzt nur noch ein kleines Konservatorium an kulturellen
Einrichtungen in der 50.000-Seelen-Stadt.
„Die Kulturlandschaft in der Stadt wird um so vieles ärmer ohne das Kino“,
sagt Laura Hartz, Leiterin des Goethe-Instituts in den palästinensischen
Gebieten. Soweit es ging, unterstützte das Goethe-Institut die
Kinobetreiber und stellte deutsche Produktionen zur Verfügung, „die wir mit
arabischen Untertiteln versehen“. Hartz räumt ein, dass es bisweilen nicht
einfach sei, ein Publikum für die Filme zu gewinnen, nicht zuletzt weil
„die Bevölkerung in Dschenin noch konservativer ist als in Ramallah“. Und
dem Kulturzentrum mangelte es an klaren Strukturen. Nicht nur finanziell,
auch organisatorisch habe „vieles im Argen“ gelegen.
Burchard stimmt zu, dass es mehr Erfahrung gebraucht hätte. „Lamai [Asir]
ist einzigartig und hat persönlich große Opfer gebracht“, sagt sie,
trotzdem habe dem Kino ein Leiter gefehlt, jemand aus dem Kulturbereich.“
Wenn man an die immensen Anstrengungen denkt, die so viele Menschen hier
investiert haben, dann treibt es einem die Tränen in die Augen, dass jetzt
nur mit einem Fingerschnippen aus dem Kino eine Shoppingmall wird.“
15 Dec 2016
## AUTOREN
Susanne Knaul
## TAGS
Westjordanland
Kino
Schwerpunkt Nahost-Konflikt
Lesestück Recherche und Reportage
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die Pforten öffnet.
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