# taz.de -- Missbrauch im Film: Sie hat ihn angefasst | |
> In dem zum Teil in Bremen gedrehten Familiendrama „Die Hände meiner | |
> Mutter“ erzählt Florian Eichinger vom Missbrauch, an den sich das Opfer | |
> spät erinnert | |
Bild: Jeden Halt verloren: Andreas Döhler als Missbrauchsopfer Markus | |
BREMEN taz | Der Filmtitel ist auf eine verstörende Weise irreführend: „Die | |
Hände meiner Mutter“ hätte eine Schnulze in den 50er-Jahren heißen können | |
und Kitschromane mit diesem Titel gibt es garantiert schon Dutzende. Da | |
werden Assoziationen von Geborgenheit und Elternliebe geweckt, aber hier | |
hat er eine ganz andere Bedeutung: Der Protagonist des Films, aus dessen | |
Perspektive hier zum größten Teil auch erzählt wird, erinnert sich | |
plötzlich daran, dass er von seiner Mutter angefasst wurde. Und zwar nicht | |
in einem mütterlich, liebevollen Sinne, sondern eindeutig sexuell. | |
Der alles verändernde Moment, an dem diese Erinnerungen über den fast | |
vierzig Jahre alten Mann hereinbrechen, passiert gleich in den ersten | |
Minuten des Films. Er ist einer der Söhne in einer großbürgerlichen | |
Familie, die den Geburtstag des alten Patriarchen feiert. Dafür wurde ein | |
ganzes Schiff gemietet, das auf der Weser fährt. Die meisten Bremer dürften | |
schnell den Dampfer „Gräfin Emma“ von der Fährgesellschaft Hal Över | |
erkennen, und wenig später dann auch den Vegesacker Anleger zum Restaurant | |
„Strandlust“, in dem dann weitergefeiert wird. | |
Und auch auf einer anderen Ebene glaubt man den Beginn des Films schon zu | |
kennen, denn eine Geschichte von Kindesmissbrauch in einer | |
Unternehmerfamilie, die auf einem großen Fest offenbart wird, gab es schon | |
einmal: In „Das Fest“ von Thomas Vinterberg, dem ersten Dogma-Film. „Die | |
Hände meiner Mutter“ wirkt wie ein Gegenentwurf zu diesem Melodram, denn | |
obwohl Eichinger den Film als seine Inspirationsquelle nennt, behandelt er | |
das Thema ernsthafter und nuancierter als Vinterberg. | |
So gibt es bei Eichinger keinen großen Showdown vor der versammelten | |
Verwandtschaft, durch den das Fest in „Das Fest“ ja schließlich in Grund | |
und Boden gestampft wurde. Statt dessen arbeitet er in dem etwa 30 Minuten | |
langen ersten Akt, der auf der Feier spielt, viel subtiler. Denn er erzählt | |
hier davon, wie schnell und grundlegend der Ausbruch solch eines lange | |
verdrängten Traumas einen Menschen verändern kann: Der Ingenieur Markus | |
(Andreas Döhler) ist mit seiner Frau (Jessica Schwarz) und seinem | |
vierjährigen Sohn auf der Feier. Als dieser von einem Gang mit seiner | |
Großmutter (Katrin Pollitt) zur Toilette mit einer Schnittwunde am Kopf | |
zurück kommt, weckt dies einen Verdacht und damit auch lange verschüttete | |
Erinnerungen in Markus. | |
Plötzlich ist er wie ein Fremder unter seinen Verwandten, und dies macht | |
Eichinger in einer Reihe von Szenen deutlich, in denen sein Protagonist | |
langsam jeden Halt verliert. Dabei verzichtet er auf die gängigen | |
dramaturgischen Kniffe, um die Geschichte zu dramatisieren: Markus erzählt | |
alles seiner Frau, die es ihm sofort glaubt und ihn unterstützt. Die Mutter | |
gibt die Taten zu, als er sie mit seinen Anschuldigungen konfrontiert. Es | |
geht auch nicht darum, die gutbürgerliche Fassade zu wahren, sondern der | |
Konflikt wird auf einer tieferen Ebene behandelt. | |
Für sein Drehbuch hat Eichinger intensiv über das Thema des sexuellen | |
Missbrauchs durch Mütter recherchiert. Er hat lange mit Opfern und | |
Psychologen gesprochen und konnte so jedes Klischee vermeiden. Die Mutter | |
ist bei ihm keine boshafte Täterin, sondern eine im Laufe des Films immer | |
verletzlicher wirkende Frau, die sich an ihrer Schuld abmüht. Und genauso | |
komplex sind auch die anderen Filmfiguren gestaltet: der überforderte | |
Vater, die Geschwister, Arbeitskollegen – und schließlich eine Reihe von | |
Therapeuten, bei denen Markus Hilfe sucht. | |
Eichinger hat lebensnahe Szenen und Dialoge geschrieben und sie so | |
inszeniert, dass sie fast dokumentarisch wirken. Um so erstaunlicher ist | |
es, wenn bei einigen Rückblenden, in denen der Missbrauch zumindest | |
ansatzweise gezeigt wird, der kleine Markus ebenfalls von dem Schauspieler | |
Andreas Böhler verkörpert wird. Diese Szenen irritieren, weil in ihnen der | |
Erwachsene immer ein wenig hilflos versucht, ein Kind zu spielen. Dadurch | |
wird der Realitätsanspruch des Gezeigten untergraben. Doch ein | |
Kinderdarsteller hätte in diesen Aufnahmen wohl noch mehr Probleme | |
geschaffen, denn sie wären mit ihm nur schwer zu ertragen gewesen – und man | |
hätte die Dreharbeiten einem Minderjährigen kaum zumuten können. | |
Die Idee für die dann realisierte Lösung, die eher ein Mittel des Theaters | |
als des Film ist, stammt von Lars Eidinger, der ursprünglich für die Rolle | |
des Markus vorgesehen war und berüchtigt dafür ist, dass er alles und jeden | |
spielen will. Eichinger wollte die Rückblenden unbedingt im Film haben, | |
weil das Thema des sexuellen Missbrauchs durch Mütter noch weit gehend | |
unbekannt ist und er zumindest eine Ahnung davon vermitteln wollte, worin | |
dieser bestehen könnte. | |
„Die Hände meiner Mutter“ ist der Abschluss einer Trilogie, in der | |
Eichinger sich mit häuslicher Gewalt und ihren Folgen beschäftigt hat. Bei | |
den früheren Filmen „Bergfest“ und „Nordstrand“ spielten die Drehorte … | |
heimlichen Hauptrollen und man kann sich heute noch vor allem daran | |
erinnern, dass der erste in einer Hütte in den Alpen und der zweite an der | |
Küste von Norderney spielte. | |
Eichinger hat ein Talent dafür, seine Geschichten in einer Landschaft oder | |
einem Milieu zu verorten und dann mit der Atmosphäre der gut ausgesuchten | |
Drehorte zu arbeiten. In seinem neuen Film ist er immer noch ein | |
neugieriger Reisender, wie schon die Luftaufnahmen zeigen, mit denen er | |
jeweils eine Zäsur zwischen den einzelnen Kapiteln des Films setzt. | |
Aber inzwischen ist er auch zu einem Schauspieler-Regisseur gereift, der | |
hier bis in die kleinsten Nebenrollen ein nahezu perfektes Ensemble | |
zusammengesucht und dann sogar die Statisten dazu inspiriert hat, so | |
natürlich und vielschichtig zu spielen, wie man es im deutschen Kino selten | |
sieht. | |
1 Dec 2016 | |
## AUTOREN | |
Wilfried Hippen | |
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