| # taz.de -- Geflüchtete als Lehrkräfte: Aus dem Krieg ins Klassenzimmer | |
| > Die Uni Potsdam bereitet geflüchtete Lehrer für den Einsatz an der Schule | |
| > vor. Hunderte bewarben sich auf wenige Dutzend Plätze. | |
| Bild: „Mit Herz und Seele“ arbeitete Zahra Alzaher (29, rechts) in Aleppo a… | |
| Potsdam taz | Bei genauem Besehen gibt es gar nicht so viele Dinge, die | |
| Geflüchtete in Deutschland gemeinsam haben. Eins eint sie allerdings: Fragt | |
| man, wie lange sie in Deutschland leben, nennen sie nicht das Jahr. | |
| Sondern, fast immer, das exakte Datum, an dem sie deutschen Boden betreten | |
| haben. | |
| So ist es auch bei Zahra Alzaher. Seit 2. November 2015 ist sie da, erzählt | |
| sie, nach mehr als einem Monat auf der Reise. Zurück ließ sie außer vielen | |
| Verwandten und einer Stadt, in der bereits damals jeder Zweite geflohen | |
| war, ein Leben in einem Beruf, den sie geliebt hat. Bis ihre Schule im bis | |
| heute aufs brutalste umkämpften Aleppo schloss, arbeitete sie in der | |
| syrischen Drei-Millionen-Stadt als Grundschullehrerin. „Mit Herz und Seele“ | |
| sagt sie, „aber wo es kein Leben gibt, stirbt auch die Bildung.“ | |
| Nun steht die 29-jährige Lehrerin vor einem beruflichen Neuanfang. Die | |
| junge Syrerin ist eine von 60 Teilnehmenden an dem bundesweit einzigartigen | |
| Qualifizierungsprogramm „Refugee Teachers Welcome“ in Potsdam. Seit April | |
| werden geflüchtete Lehrkräfte, die, meist in Syrien, an Schulen gearbeitet | |
| haben, ein Jahr lang auf erste Einsätze an Schulen in Deutschland | |
| vorbereitet. Bis zum Beginn des Wintersemesters stand ein Sprachkurs im | |
| Mittelpunkt; Fünf Tage, 24 Stunden in der Woche. Wer dabei zuschaute, der | |
| konnte einiges darüber lernen, was für ein Brocken die deutsche Sprache | |
| auch für didaktisch vorgebildete Akademiker ist. Als irgendwann, im vierten | |
| Monat, das Thema Zugfahren auf dem Programm stand, verzweifelten die | |
| anfangs nur 20 Kursteilnehmer fast. | |
| „Ist der Zug direkt?“ fragte eine Schülerin – und musste lernen, dass es | |
| heißt: „Fährt der Zug direkt?“, oder auch: „Ist es ein Direktzug?“. U… | |
| dass es die S-Bahn, aber der Zug ist. Dabei haben eine ganze Reihe der | |
| geflüchteten Lehrkräfte in Syrien Englisch unterrichtet; sie haben also | |
| sogar bereits eine Fremdsprache gelernt hat – und tun sich doch schwer. Um | |
| das Deutschsprechen noch weiter zu fördern, stehen den Refugee Teachers | |
| seit Beginn des Kurses deutsche Lehramtsstudierende als Buddys zur Seite. | |
| ## Zwischen Klischees und Unterrichtskulturen | |
| Bei der Gelegenheit lernten sich auch gleich heutige Kommilitonen kennen. | |
| Seit Oktober studieren diejenigen, die eigentlich bereits Lehrer sind, mit | |
| jenen, die am Beginn ihrer Ausbildung stehen: Zusammen mit | |
| Lehramtsstudierenden besuchen sie Seminare zum deutschen Schulsystem, | |
| Fachdidaktik und Pädagogik. Profitieren würden alle Beteiligten, erklärt | |
| Fredrik Ahlgrimm, zusammen mit der Professorin Miriam Vock Programmleiter: | |
| „Die deutschen Studierenden erleben eine Vielfalt und Diversität in ihren | |
| Kursen, die ihnen nur zugute kommen kann.“ | |
| Aber kommt, wer in Syrien Lehrer war, nicht aus einer völlig anderen | |
| Schule, kennt nur Frontalunterricht statt Individualisierung, autoritäre | |
| Führung statt kontroverse Gruppenarbeit? Schwer zu sagen, sagt Ahlgrimm: | |
| „Natürlich sind sie eine andere Klassengröße und eine andere | |
| Unterrichtskultur gewohnt. Wie groß oder klein die Unterschiede in der | |
| pädagogischen Praxis sind, muss sich aber erst noch zeigen.“ Nämlich bei | |
| den wöchentlichen Hospitationen in Schulen, die soeben begonnen haben: Seit | |
| Montag verbringen die 60 geflüchteten Lehrkräfte einen Tag in der Woche in | |
| einer Berliner oder Brandenburger Schule. | |
| Ahlgrimm, der die Refugee Teachers wöchentlich im Seminar „Einführung in | |
| die Schulpädagogik“ sieht, warnt vor Klischees: „Mein Eindruck ist: Auch | |
| innerhalb Syriens gibt es völlig verschiedene Schulen; was die Ausstattung, | |
| aber auch, was das Lehren angeht. Am Ende könnte also dort wie hier gelten: | |
| Die Unterschiede innerhalb des Systems sind größer als jene zu anderen | |
| Ländern.“ Wobei, Klischee hin oder her, sich eins dann doch schon bei der | |
| Vorstellungsrunde herausgestellt hat: „Alle wollen Lehrer werden, weil sie | |
| gern mit Kindern und Jugendlichen arbeiten“, sagt Ahlgrimm „aber nur die | |
| Syrer sagen: Sie haben den Beruf gewählt, weil der Lehrer eine | |
| Respektperson ist.“ | |
| ## Schulen bieten oftmals Prakikumsplätze an | |
| Hiba Aqili, die in Aleppo Englisch unterrichtete, ist jedenfalls angetan | |
| von allem, was sie bisher aus deutschen Klassenzimmern hört. Ihr jüngerer | |
| Bruder besucht eine Potsdamer Schule. „Wenn er erzählt, wie viel Wert hier | |
| auf freies Lernen und eigenständiges Denken gelegt wird, freue ich mich | |
| schon jetzt“, erzählt die 27-Jährige, „so möchte ich auch einmal | |
| unterrichten.“ Bis es soweit ist, dass sie oder einer ihrer Mitstreiter vor | |
| einer Klasse steht, wird jedoch noch einige Zeit ins Land gehen. | |
| „Natürlich bieten wir keinen Schnellkurs ins deutsche Lehramt“, sagt der | |
| für Lehre und Studium zuständige Vizepräsident der Potsdamer Universität, | |
| Andreas Musil. Wie bei allen anderen im Ausland ausgebildeten Lehrern in | |
| Deutschland werden auch in diesem Fall die Zeugnisse angeschaut – und dabei | |
| in aller Regel festgestellt, dass nur ein Bachelor oder ein Studium in | |
| einem Fach vorliegt. Damit ist man nach deutschem Recht keine Lehrkraft und | |
| kann sich bestenfalls als sogenannter „Nichterfüller“, ähnlich wie deutsc… | |
| Quer- oder Seiteneinsteiger, bewerben. | |
| Vizepräsident Musil hofft, dass die besonderen Kompetenzen der | |
| Zugewanderten helfen, eine Aufgabe zu finden: „Warum sollen sie nicht in | |
| Willkommensklassen mitarbeiten und dort als Integrationsvorbilder dienen? | |
| Oder an Schulen als Kulturvermittler, die Experten für Kinder sind und | |
| wichtige Brücken zu Eltern bauen können?“ Die erste Hürde auf dem Weg in | |
| den Arbeitsmarkt sei bereits erfolgreich überwunden. Musil: „An Berliner | |
| wie Brandenburger Schulen haben wir eine große Offenheit erlebt, | |
| Praktikumsplätze anzubieten.“ | |
| ## 5.200 Lehrer fehlen | |
| Das mag nicht nur mit der großen Weltoffenheit der Schulen zu tun haben – | |
| sondern auch mit strategischen Überlegungen: Vielerorts in Brandenburg | |
| fehlt es an Lehrern. Im vergangenen Winterhalbjahr fielen in dem | |
| Zweieinhalb-Millionen-Einwohner-Land nach Angaben des Potsdamer | |
| Bildungsministeriums 118.000 Stunden aus. Die Suche nach 1.400 Lehrern zum | |
| laufenden Schuljahr verlief zwar schließlich bis auf wenige Stellen | |
| erfolgreich; bis 2019 muss Brandenburg aber weitere 5.200 Lehrkräfte | |
| einstellen, um den Unterricht zu garantieren. | |
| Kultusminister Günter Baaske (SPD) selbst wirbt auf der Website des | |
| Ministeriums mit „besten Möglichkeiten für eine Festanstellung im ganzen | |
| Land“, und erklärt: „Vorrangig“ gesucht würden Lehrkräfte mit einer | |
| „abgeschlossenen Ersten und Zweiten Staatsprüfung oder einem | |
| lehramtsbezogenen Masterabschluss und einer Staatsprüfung“. Wenn sich diese | |
| nicht ausreichend fänden, würden „in Einzelfällen“ auch Interessenten | |
| eingestellt, „die diese Voraussetzungen (noch) nicht erfüllen“. Für die | |
| Refugee Teachers heißt das, dass sie wahrscheinlich fernab der Städte | |
| Potsdam und Cottbus eingesetzt würden: in der Uckermark etwa, wo bereits | |
| heute Lehrer aus Polen angeworben werden. Manche „Bürgermeister in | |
| entlegeneren Regionen“, erklärt Musil, hätten dann auch gleich „Wohnungen | |
| und Kitaplätze bereitgestellt, um den geflüchteten Lehrern und der | |
| mitreisenden Familie den Start zu erleichtern“. | |
| Für die geflüchteten Lehrer ist selbstständiger Unterricht das Ziel. | |
| „Natürlich hoffe ich, dass ich eines Tages eine feste Klasse habe, die | |
| Schüler kenne und sehe, wie sie sich entwickeln“, sagt Hiba Aqili, „das ist | |
| ja auch das, was ich in Syrien gemacht habe.“ Zurückgreifen kann sie dafür | |
| auf einen Bachelor als Grundschullehrkraft. Den Master hätte sie gern | |
| angehängt, aber dann wurde der Weg in die Universität in Aleppo – die | |
| inzwischen längst ganz geschlossen hat – zu gefährlich: „Und jetzt muss es | |
| hier für mich weitergehen,“ konstatiert Aqili. | |
| ## Sofort 700 Bewerber | |
| Wie groß der Bedarf ist, Akademiker so zu integrieren, wie es die Potsdamer | |
| Uni nun vormacht, zeigt das Interesse. Nur wenige Tage nachdem die | |
| Initiatoren den Kurs publik gemacht hatten, wollten 700 Bewerber aus ganz | |
| Deutschland einen der ursprünglich 20 Plätze ergattern. Die meisten waren | |
| Flüchtlinge, die erst seit Kurzem im Land sind: „Auch Menschen aus | |
| Tschetschenien, Russland und verschiedenen Ländern Afrikas, die seit Jahren | |
| in Deutschland leben, haben sich gemeldet“, erzählt Miriam Vock. | |
| Flugs verdreifachten die Potsdamer die Plätze von 20 auf 60. Mehr ist, sagt | |
| Musil, für eine einzelne Universität kaum leistbar. Er verweist auf die | |
| zahlreichen Beteiligten: vom Präsidium über das Akademische Auslandsamt und | |
| das Zentrum für Lehrerbildung und Bildungsforschung an der Universität bis | |
| zum brandenburgischen Wissenschaftsministerium, das die Finanzierung der | |
| Sprachkurse – immerhin 5.500 Euro pro Teilnehmer – übernahm. Weil nun aber | |
| ja, rein rechnerisch, noch 640 Menschen unversorgt sind, hofft das Projekt | |
| an anderen Universitäten oder Pädagogischen Hochschulen auf Nachahmer. | |
| 15 Nov 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Jeannette Goddar | |
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