| # taz.de -- Die Wahrheit: Hohl? Jawohl! | |
| > Wenn die Dinge und Gedanken und Handlungen eins werden, dann kann einem | |
| > schon mal bei Hitchcocks „Vertigo“ schwindlig werden. | |
| Manche Tage verlaufen so. Die Frage nach dem zweiten Espresso in der Frühe | |
| stellte ich mir wohl deshalb, weil wir am vergangenen Abend einen | |
| französischen Spielfilm gesehen hatten, einen mit Romy Schneider, Fanny | |
| Ardant oder Isabelle Adjani. Und wie war noch die Frage? Ach ja: Spielst du | |
| heute den Rechercheur oder den Flaneur? Den Hazardeur oder den Jongleur? | |
| Den Hypnotiseur oder den Destillateur? | |
| Ich entschied mich für den ersten Vorschlag. Denn längst wollte ich jene | |
| Recherche abschließen und spazierte durch die Straßen. Die | |
| Versuchsanordnung lautete: Mit den Fingerknöcheln an jedem Haus prüfend zu | |
| pochen, dessen Fassade danach aussieht, gedämmt zu sein. In 99 von 100 | |
| Fällen klingt es hohl. | |
| Hohl! Ich meine, ein Staat, eine Gesellschaft, deren Gebäude schon mit | |
| ihrer Fassade Hohlheit beschwört – hohl bedeutet ja auch inhaltsleer, | |
| abgegriffen, geistlos, dumpf, stumpfsinnig, fad –, kann nicht so recht | |
| überzeugen, mindestens sinnbildlich. Zumal eine Fassade ohnehin schnell als | |
| Kulisse oder Attrappe betrachtet wird. | |
| Derweil ich das Ergebnis im Laptop zusammenfasste – etwa so: nicht nur | |
| unser raumsoziologisches Dasein sei ein großer Schwindel, an dem wir in | |
| unserer Eigenschaft als Mitbürger teilhaben –, rief Marina über den | |
| Korridor, sie habe in dem DVD-Stapel Hitchcocks „Vertigo“ entdeckt: „Kuck… | |
| du mit?“ Man kann es sich denken: Ich tippe gerad das Zentralwort | |
| „Schwindel“, durch die Luft fliegt in mein Ohr der Filmtitel „Vertigo“ … | |
| war es nicht um mich, aber um die Geschlossenheit dieser Geschichte | |
| geschehen. | |
| Denn es gibt ja nicht nur den Schwindel. Die Humanmediziner halten etliche | |
| Schwindel, Vertigos, auseinander, jene Scheinbewegungen zwischen sich und | |
| der Welt. „Wie jetzt?“, fragte Marina, die selbst manchmal sich aus | |
| heiterem Himmel schwindlig fühlt. | |
| Ich wusste es nicht besser als sie, hatte es jedoch ansatzweise aufgerufen. | |
| Die Experten unterscheiden den Dreh-, Schwank- oder Bewegungsschwindel | |
| beziehungsweise den phobischen und unsystematischen, den anfallartigen und | |
| anhaltenden sowie Attacken-, Lift- und Lagerungsschwindel sowie den | |
| zentralen Schwindel. | |
| Unnötig zu sagen, wie meiner Freundin zu Mute war. Wie würde ich ihr am | |
| besten helfen? Taktisch oder strategisch? Oder gar operativ? Sollten wir – | |
| jetzt erst recht! – „Vertigo“ anklicken? Oder zurück zum gestrigen Abend, | |
| irgendwas Französisches, ein Film mit Delon, Trintignant oder Depardieu? | |
| Oder sollte ich versuchen, mich in einen Jongleur zu verzaubern, einen | |
| Hypnotiseur oder Destillateur? Und sind das existenzielle Fragen angesichts | |
| der Dämmerungsschwindelei und der insgesamt verlogenen Gegenwart? | |
| Wir entschieden uns für den letzten Vorschlag. Als Destillateur schaltete | |
| ich den Player aus, holte eine Flasche „Sommertraum“ des Weinguts Müller | |
| aus dem Kühlschrank, bevor der siebte sonnenlose Herbsttag nacheinander dem | |
| Ende entgegenschlich. | |
| 2 Nov 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Dietrich zur Nedden | |
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