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# taz.de -- Kunstmuseum Wolfsburg goes Pop: Sehnsucht, Gummi und Erdbeerduft
> „This Was Tomorrow“ im Kunstmuseum Wolfsburg ist die große
> Übersichtsschau zur British Pop Art zwischen 1947 und 1968.
Bild: Aussschnitt aus: Gerald Laing, C. T. Strokers, 1964, Öl auf Leinwand
Eine der betörendsten Arbeiten in „This Was Tomorrow“ ist zweifellos Jann
Haworth’ Surfer. Die Künstlerin fertigte ihn aus Seidenstrümpfen. Neben
einer Wuschelmähne und sonnengebräunter Haut modellierte sie ihrer „Soft
Sculpture“ auch einen wunderbaren Sixpack.
Wie kommt eine Künstlerin aus Großbritannien darauf, sich in den sechziger
Jahren mit dem Motiv des Surfers zu beschäftigen? Ein Motiv, das selbst in
den USA, wie es scheint, doch erst durch Raymond Pettibon in den neunziger
Jahren in den Kunstdiskurs Eingang fand, obwohl der Surfer dort, zumindest
in Kalifornien, eine geläufige Erscheinung ist.
Die sich entwickelnde Konsum- und Freizeitkultur der zweiten Hälfte des 20.
Jahrhunderts, das lässt sich nach dem Rundgang durch die große
Übersichtsschau zur britischen Pop-Art im Kunstmuseum Wolfsburg
konstatieren, erfuhr in England und Frankreich früher Aufmerksamkeit aus
der Kunst- beziehungsweise in Frankreich aus der Filmszene als in den
Vereinigten Staaten selbst, dem Ursprungsland der Entwicklung.
Deshalb überblickt nun aus geschätzten zwölf Metern Höhe der Star der
Nouvelle Vague schlechthin, überblickt also Anna Karina die „City of the
Sixties“ wie Ralf Beil, Direktor des Kunstmuseums, und seine Kuratorin Uta
Ruhkamp den Ausstellungsparcours in der großen Museumshalle nennen. Gemalt
hat sie 1963 Gerald Laing in der Art des Rasterdrucks, wie man ihn aus
Zeitungen kennt, im Billboardformat von knapp vier Metern Höhe.
## Neodadaistische Collage
Wie früh US-Werbung, Massenmedien und Hollywood in England und Frankreich
kulturell durchschlugen, zeigt die neodadaistische Collage „I was a Rich
Man’s Plaything“, die der damals 23-jährige Künstler Eduardo Paolozzi 1947
in seinem Pariser Atelier klebte. Unter der Schrift „Intimate Confessions“
ist ein gerade abgeschossener Revolver zu sehen, in dessen Rauchwolke
„Pop!“ zu lesen ist. Neben der „Daughter of Sin“ ist naturgemäß Coca-…
in dieser Urszene der Pop-Art anwesend, ein Flying Fortress und rot
leuchtende Kirschen.
Die rasche Abfolge solcher Collagen, mit denen der schottische Künstler
unter dem Titel „Bunk!“ seinen Einführungsvortrag bei der ersten Sitzung
der Independent Group am 12. Februar 1952 in London auf dem Episkop
begleitete und die modernen Küchen, Konservendosen, Flugzeuge, Pin-up-Girls
und Disney-Figuren zeigen, erwies sich zwar zunächst als totaler Flop.
Trotzdem findet sich in den Diskussionen über die Konsumgesellschaft, über
Urbanität, Mobilität und die Stadt von morgen der Independent Group mit dem
Architekturkritiker Reyner Banham, dem Kunstkritiker Lawrence Alloway, den
Künstlern Richard Hamilton und Eduardo Paolozzi, dem Fotografen Nigel
Henderson und den Architekten Peter und Alison Smithson die Keimzelle des
British Pop.
1956 stellten die Smithsons einen Prototyp ihres für die Massenproduktion
vorgesehenen House of the Future vor, in dem der soziale Wohnungsbau
richtig schick aussah, mit Designerküche und Egg Chair. Endlich nach dem
Krieg ist das Land hochgestimmt. Deshalb scheint es nur folgerichtig, dass
das ikonische Bild der Pop-Art jetzt entsteht: „Just what is it that makes
today's homes so different, so appealing?“, eine kleine Collage von Richard
Hamilton in der Ausstellung „This Is Tomorrow“.
## Die Totale Installation
Dort stürzt sich Hamilton mit seinem Fun House wirklich kopfüber in die
Zukunft: Bei der Rauminstallation, die er mit Hilfe der Architekten John
Voelcker und John McHale in der Londoner Whitechapel Art Gallery aufbaut,
arbeitet er mit Mikrofon und Verstärker, die er den Besuchern zur Verfügung
stellt.
Damals wie heute – die von Hamilton 1987 selbst besorgte Rekonstruktion
wurde extra aus Valencia nach Wolfsburg geholt − riecht man Erdbeerduft,
schreitet über weichen Gummiboden, wird durch bewegliche Rotoreliefs
irritiert, sieht einen Kriegsfilm und kann in der Jukebox die aktuellen
Hits finden, um nur einige Elemente dieses totalen Environments zu nennen.
Hamilton ist es auch, der rund zehn Jahre später den Abgesang ikonografisch
definiert, mit „Swingeing London 67“ (1968), dem Bild, das Mick Jagger und
den Galeristen Robert Fraser in Handschellen zeigt. Die Synergien von
Musik, Kunst und Mode sind auf dem Höhepunkt: „Popidol Mick Jagger von den
Rolling Stones erschien heute vor Gericht in einem lindgrünen Jackett,
dunkelgrüner Hose, einer grünschwarzen Krawatte und einem geblümten Hemd,
um sich wegen Drogenbesitzes zu verantworten“, ist auf einen
Zeitungsausschnitt in Hamiltons Druckgrafik „Swingeing London“ (1968) zu
lesen.
In Wolfsburg ist man dann auf der Empore angelangt, wo Hamilton einen eigen
Raum hat, für „Swingeing London 67“ und den Film, den James Scott, wie
viele Pop-Art-Künstler ein Absolvent der Slade School of Fine Arts in
London, 1969 über ihn drehte.
## Die Gruppe als Fundament von British Pop
Dieser eigene Raum, den alle in der Schau vertretenen Künstler haben,
darunter nicht nur die kanonisierten wie David Hockney, R. B. Kitaj, Peter
Blake, Joe Tilson oder Allen Jones, sondern auch Entdeckungen wie Pauline
Boty und Jann Haworth oder weniger bekannte Künstler wie Derek Boshier,
Peter Phillips. Gerald Laing, Colin Self, Antony Donaldson, Patrick
Caulfield und Richard Smith, ist das Problem der Schau.
Denn er vereinzelt, was zusammengehört. Fundament von British Pop war die
Zugehörigkeit zu verschiedenen Gruppen, die sich an den führenden
Kunsthochschulen wie der Slade School, der St. Martin’s School of Art oder
dem Royal College of Art in drei Wellen herausbildeten und die auch Leute
aus der Musikbranche und der Mode einbegriffen und ganz früh eben auch die
Independant Group und ihre Projekte am Institute of Contemporary Art (ICA).
Erstmals nach 1945 war aufgrund veränderter Zugangsvoraussetzungen ein
Studium an diesen Hochschulen auch für Arbeiterkinder wie Hockney, Jones,
Bosier, Phillips, Caulfield, Tilson und Self, möglich. Deren
Klassenzusammengehörigkeit mag vielleicht die rauere Ästhetik und das
deutlich politische Zeichen- und Zitatrepertoire erklären, das sich im
British Pop immer wieder findet, etwa wenn Collin Self das Bond-Girl Ursula
Andress mit dem Zeichen für einen nuklearen Fall-out-Schutzbunker
kombiniert.
Nur für Pauline Boty und Jann Haworth, die als Frauen Außenseiterinnen und
an den Hochschulen nur bedingt zugelassen waren − „the girls were there to
keep the boys happy“ so Haworth −, könnte das eigene Haus stimmig sein.
Haworth sorgsam genähte Soft Sculpture von 1962 „Donuts, Coffee Cups &
Comics“ zitiert eine häusliche Szene. Doch es ist ja nur das riesige
Volumen der Wolfsburger Halle, das Einbauten verlangt, die wie jetzt leicht
zu kleinteilig geraten.
## Den Pop feministisch aufmischen
Haworth war in Hollywood aufgewachsen, was das Motiv des Surfers
verständlich macht. Eine weitere ihrer Stoffskulpturen, Shirley Temple mit
einem „Welcome The Rolling Stones“-Pullover, ist auf dem „Sgt. Pepper's
…“-Album-Cover abgebildet, das sie mit ihrem Ehemann Peter Blake
konzipierte. Gemeinsam mit Pauline Boty mischte sie den British Pop mit
Feminismus auf.
Boty versuchte die Rolle der Frau als Konsumartikel neben Konservendosen
und schnellen Wagen, wie sie ihre Künstlerkollegen definierten, durch
Affirmation zu unterlaufen, was ihr naturgemäß nur bedingt gelang. Deutlich
wird aber in ihren Collagen und Gemälden ein weiblicher Blick auf die
Konsum- und Massenkultur.
Für die schöne, hippe und modische Akteurin von Swinging London, die schon
mit 28 Jahren starb, handelte Pop von der „Sehnsucht nach dem Jetzt“. Statt
distanzierend waren ihre popkulturellen Aneignungen identifikatorischer
Natur. Und sie kehrte die sexuelle Ökonomie des Pop wie etwa in Laings
„Anna Karina“ um. „With Love to Jean-Paul Belmondo“ (1962) zeigt den He…
der Nouvelle Vague in coolem Schwarz-Weiß mit einer riesigen roten Rose auf
den Strohhut und darüber bunte Herzchen.
2 Nov 2016
## AUTOREN
Brigitte Werneburg
## TAGS
Pop Art
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