# taz.de -- Drogenszene in Frankfurt am Main: Ameisenhandel auf der B-Ebene | |
> Die Zahl der Dealer im Bahnhofsviertel schnellt seit dem vergangenen Jahr | |
> in die Höhe. Eine Erkundung bei Händlern, Abhängigen und der Polizei. | |
Bild: Drückerstube am Frankfurter Hauptbahnhof, Oktober 2016 | |
FRANKFURT taz | „Marihunna, Marihunna, Marihuanna“, sagt er – ein Uhr | |
nachts – und nickt zu einer Ecke in einem Hauseingang. Zwei Gramm will er | |
heute noch loswerden. Ein Mann mit braunen kurzen Locken, den Blickkontakt | |
haltend. Dann greift er kurz in seine schwarze Winterjacke, nickt noch mal. | |
Der Deal läuft. Ein junger Mann folgt in die dunkle Ecke. Plastiktüte und | |
10-Euro-Schein wechseln die Hände. Der Deal ist gemacht. | |
Frankfurt: Zwischen Bahnhof und Wolkenkratzer gibt es für 20 Euro Sex, den | |
Crackstein für 10 Euro, auch Waffen soll man hier kaufen können. Seit | |
Jahrzehnten gilt der Ort als ein krimineller Brennpunkt im Land. Und | |
während in den vergangenen Jahren eher über Verdrängung und steigende | |
Mieten diskutiert wurde, rückt nun die altbekannte Drogenproblematik wieder | |
in den Fokus. | |
Seit Sommer vergangenen Jahres zeigen sich mehr Dealer im Bahnhofsviertel. | |
30 bis 40 Drogenverkäufer tummeln sich täglich an der Ecke Düsseldorfer und | |
Niddastraße, vorher seien es nur drei oder vier gewesen. Ebenfalls | |
betroffen: die Untergrundpassage des Frankfurter Bahnhofs, die „B-Ebene“. | |
In der Tasche haben die Dealer meist nur ein paar Gramm Marihuana, die sie | |
mit Zurufen versuchen, an Passanten loszuwerden. | |
„Wir reden hier von Ameisenhandel“, sagt Polizeihauptkommissar Matthias | |
Block-Löwer. Drei silberne Sterne auf einer blauen Uniform trägt der Beamte | |
und sitzt in seinem Büro des Polizeireviers 4: „Beschwerden kommen von | |
Pendlern und Anwohnern.“ Beklagt werden Kot und Urin, Pöbeleien, benutzte | |
Spritzen. Mehr als 140 Einsätze habe die Polizei deshalb seit Januar im | |
Viertel gestartet, um die kleinen Dealergruppen aufzulösen. Auch größere | |
Razzien gab es. Doch gegen die erhöhte Anzahl der Verkäufer könne man | |
nichts machen. Die kleinen Mengen, die die Personen bei sich tragen, | |
rechtfertigten keinen Haftbefehl. | |
## An jedem Eingang stehen Drogendealer | |
Der Hauptkommissar sagt, es brauche viel Zeit für Ermittlungen, um an die | |
Hintermänner zu kommen. Erfolgreicher sei man bei Zwischenmännern. Die | |
halten sich auch in Bahnhofsnähe auf und versorgen die Straßenverkäufer mit | |
Nachschub. | |
Mit besonders vielen Dealern, die kleine Mengen bei sich tragen, lässt sich | |
das Straßengeschäft weitestgehend an der Polizei vorbei machen. Und da | |
zeigt sich dann auch schon die nächste Auffälligkeit. Für diese Strategie | |
braucht man mehr Beamte – stattdessen stiegt die Anzahl der Dealer | |
ausgerechnet im vergangenen Sommer. Mehr als die Hälfte der Festgenommenen | |
aus der neuen Kleindealerszene seien in Flüchtlingsunterkünften | |
untergebracht, erklärt der Polizist; die meisten von ihnen kämen aus den | |
Maghrebstaaten, keine Syrer. Über die Hintergründe, wie die Drogen in die | |
Stadt kommen, und wie die Dealer rekrutiert werden, weiß die Polizei bisher | |
wenig. | |
Am Tag in der B-Ebene. In Frankfurt ist Buchmesse. Durch die Gänge schieben | |
sich Menschenmassen. An jedem Eingang stehen Drogendealer, machen ihre | |
Geschäfte hinter den Ticketautomaten. Sie sprechen Rentner an, Kinder, | |
Anzugträger. Die Ladenbesitzer verfolgen hinter ihren Schaufenstern das | |
Treiben täglich. „Die wissen gar nicht so richtig, was die da machen“, sagt | |
ein Besitzer. Eine Frau von einem Reinigungsgeschäft erzählt, dass sie hier | |
schon mehrere Razzien mitbekommen hat. | |
Nachts, zehn Stunden später, schlendert der Drogenabhängige Christian W. | |
durch die Bahnhofspassage. Er trägt eine vollgepackte Plastiktüte mit | |
Kleidung. Im Gesicht des 41-Jährigen zeigt sich ein intensives Leben. Seit | |
23 Jahren „lebt“ er hier im Bahnhofsviertel, wie er sagt. Er schaut umher, | |
ein anderer Drogenabhängiger mit langem Bart und ohne Zähne kommt ihm | |
entgegen. Christian W. rempelt ihn an: „Hast du noch was?“, der Zahnlose | |
schüttelt den Kopf. | |
Seit 23 Jahren raucht er mehrmals am Tag „Base“, „nicht das amerikanische | |
Crack“; das gäbe es in Deutschland nicht. „Die strecken das Kokain mit | |
einem anderen Backpulver. Wir nennen das ‚Base‘ oder einfach ‚Stein‘. D… | |
klimpert nicht so die Knochen weg.“ 15 Sekunden nach dem Inhalieren beginnt | |
der Rausch. Crack, noch mehr als Heroin, gilt als die gefährlichste Droge | |
in der Szene. | |
Christian W. setzt sich an den hell beleuchteten Bäcker, dem einzigen | |
Geschäft, das noch geöffnet hat. Fünf Sicherheitsbedienstete laufen mit | |
einem Hund vorbei. Ein Betrunkener steht an der Bäckertheke, kann kaum noch | |
stehen. „Jetzt verpiss dich endlich hier“, sagt einer der breit gebauten | |
Sicherheitsleute zu dem Betrunkenen. „Entschuldigung“, antwortet der | |
lallend. Christian W. duckt den Kopf: Die Polizei sei nur nervig, aber | |
dieser Sicherheitsdienst fange immer mit Pöbelei an. | |
## Private Sicherheitsdienste ohne passende Ausbildung | |
Die B-Ebene hat ein Zuständigkeitsproblem. Für den Hauptbahnhof selbst ist | |
die Bundespolizei zuständig, für alles außerhalb die Landespolizei des | |
Polizeireviers 4. In der Untergrundpassage teilt man sich die | |
Verantwortung. Weil die Bundespolizei an die Grenzen geholt wurde, waren | |
die Bahnhöfe zeitweise unterbesetzt. Private Sicherheitsdienste, meist mit | |
Personal ohne passende Ausbildung, sollen nun mit für Sicherheit sorgen in | |
einem Bahnhof, der täglich eine Million Pendler zählt. | |
Rund 100 Meter entfernt stehen die Base-Abhängigen an den Eingangstreppen. | |
Es knackt, wenn sie rauchen. Eine Frau lässt einen Zigarettenstummel | |
fallen, zwei der Junkies stürzen sich auf den Stummel. Sie verwenden die | |
Reste für ihre Pfeifen. | |
„Die Polizei hatte hier aber auch noch nie große Ahnung“, sagt Christian W. | |
Jeder wisse: Am Bahnhof in Frankfurt bekommt man immer was. „Das wird sich | |
auch nie ändern.“ Meist verbringt er den ganzen Tag im Viertel damit, | |
kleine Mengen zu kaufen, wieder gewinnbringend zu verkaufen, um so über den | |
Tag zu kommen. Nur ein einziges Mal habe es die Polizei geschafft, wirklich | |
alle Hähne am Bahnhof zuzudrehen. Das sei schon Jahre her. Da mussten er | |
und ein paar andere mit Entzugserscheinungen so lange herumtelefonieren, | |
bis sie mit einem Sammeltaxi abgeholt wurden, das sie vor ein Bürogebäude | |
brachte. „Da kam ein Mann im Anzug raus und gab uns einen Koffer. Wie im | |
Film“, erinnert sich Christian W. | |
Zwischen 350 und 400 Drogenabhängige halten sich im Bahnhofsviertel auf. | |
„Viele von ihnen sind inzwischen alt“, erzählt Wolfgang Barth, Leiter des | |
Drogennotdienstes im Bahnhofsviertel. Er ist groß gewachsen, kräftig, hat | |
längere Haare. In seiner mehrstöckigen Einrichtung finden die | |
Drogenabhängigen Schlafmöglichkeiten, soziales Leben, etwas zu Essen und | |
auch die „Drückerstuben“. Die Räume, in denen die Abhängigen mit sauberem | |
Besteck ihre Drogen nehmen können, wurden 1994 mit viel Gegenwind | |
eingerichtet. Der „Frankfurter Weg“ wird von den Beteiligten noch immer als | |
der richtige bezeichnet. Die Zahl der Drogentoten ist von 142 im Jahr 1992 | |
auf heute 20 im Jahr zurückgegangen. | |
## Die Drogenrentner | |
Der Sozialpädagoge Wolfgang Barth steht vor der Schlange des Ärzteraums, an | |
dem diePrivate Sicherheitsdienste, meist mit Personal ohne passende | |
Ausbildung, gehören zur Generation Christiane F. Diskussion im Warteraum. | |
Ein älterer kleiner Herr mit Hut und Stock sagt: „Eigentlich ist alles wie | |
immer.“ Dass nun ausgerechnet die paar Kleindealer mit ihrem Marihuana | |
dafür sorgen, dass einige den Frankfurter Weg kritisieren, findet er | |
unverhältnismäßig. | |
Draußen vor dem Gebäude sammeln sich die Abhängigen. Casinos, Bordelle, | |
Stundenhotels und Sexkinos. Ein Polizeiwagen fährt vor. Schon 1992 hängte | |
Uwe Barth ein Schild unten in den Eingangsraum: „Wer dealt, fliegt raus“. | |
Daran halten sich wohl auch alle. Regelmäßig fährt das Ordnungsamt oder die | |
Polizei vor und hält für ein paar Minuten, um Präsenz zu zeigen. Die | |
Zusammenarbeit mit den anderen Institutionen laufe sehr gut, sagt Barth. In | |
regelmäßigen Treffen bespreche man Veränderungen in der Szene. | |
„Zur Drogennotstelle kommt aber nur ein kleiner Teil der Abhängigen.“ In | |
anderen Gruppen treffen sich auch Anwälte, Ärzte – Drogenkonsum zieht sich | |
durch die ganze Gesellschaft. Kokain sei in der Leistungsgesellschaft | |
gefragt wie nie. Doch nur an den Brennpunkten sei der Drogenkonsum | |
sichtbar. Und das sei in Frankfurt mit dem Bahnhof ausgerechnet das | |
Eingangstor der Stadt. | |
Das sah auch Ordnungsdezernent Markus Frank (CDU) so, der kürzlich die | |
Justiz dafür verantwortlich machte: Einige der Dealer auf der Straße hätten | |
bereits 50 Straftaten begangen, und seien immer noch auf der Straße. Die | |
Staatsanwaltschaft und das Amtsgericht wiesen den Vorwurf zurück. | |
Auch der Dealer mit den braunen kurzen Locken hat schon mehrere | |
Polizeikontrollen hinter sich. Er ist 22 Jahre alt. Er kommt aus Spanien, | |
sagt er – seine Eltern aus Marokko. Seit drei Monaten dreht er jeden Tag | |
seine Runden im Bahnhofsviertel. Ein Kollege kommt vorbei. „Kein Geld – | |
aber hier: viel Geld“, sagt er auf Deutsch und deutet auf die Wolkenkratzer | |
im Hintergrund. Dann lacht der andere. Sie müssen jetzt los. | |
1 Nov 2016 | |
## AUTOREN | |
Timo Lehmann | |
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