# taz.de -- Debatte Liberalismus und Minderheiten: Befreiung unerwünscht | |
> Frauenrechte und Freiheit sind heilig – bis die Religion von Minderheiten | |
> ins Spiel kommt. In Deutschland zeigt sich das am Umgang mit Muslimen. | |
Bild: Gefangen zwischen der Herrschaft der Religion und der Nachsicht des Staat… | |
Als ich zwanzig Jahre alt war, begann ich heimlich die Universität zu | |
besuchen. Ich besaß weder einen High-School-Abschluss noch etwas | |
Vergleichbares. Nichts, was mich auf höhere Bildung vorbereitet hätte, | |
außer man zählt die vielen Stunden, die ich unerlaubt in öffentlichen | |
Bibliotheken verbracht habe, dazu und die unzähligen Bücher, die ich | |
heimlich unter meiner Matratze gequetscht oder hinter schwere Möbelstücke | |
geklemmt habe. | |
Ich bin in New York geboren und aufgewachsen in einer fundamentalistischen | |
Gemeinschaft, in der weltliche Bildung verboten war. Mit siebzehn Jahren | |
wurde ich zu einer arrangierten Ehe genötigt; diese Verbindung brachte ein | |
Jahr, bevor ich mich für meinen ersten College-Kurs eingeschrieben hatte, | |
ein Kind hervor. | |
Die Entscheidung, zur Universität zu gehen, war das Ergebnis einer | |
lebenslangen Sehnsucht, die durch die Geburt meines Sohnes noch stärker | |
wurde; ich musste einen Weg in eine Welt finden, in der wir beide, er und | |
ich, frei entscheiden konnten. | |
Ich war die erste chassidische Jüdin am Sarah Lawrence College. Als ich auf | |
den Campus kam, trug ich einen langen, biederen Rock und eine glänzende | |
steife Perücke. Als ich die anderen Studentinnen in ihren engen Jeans und | |
mit ihrem offenen Haaren staunend anstarrte, wurde mir sofort klar, dass | |
ich unauslöschlich anders war. | |
## Keine Ahnung von Political Correctness | |
Dieses Gefühl verstärkte sich in meinen Seminaren, am deutlichsten während | |
eines Einführungskurses mit dem Titel „Vielfalt und Demokratie“. Dieser | |
Kurs bestand fast durchweg aus weißen Frauen mittleren Alters, deren Kinder | |
bereits aus dem Haus waren. Nur Tamikah war nicht so. Sie und ich hatten | |
etwas gemeinsam, vom ersten Augenblick an war klar, dass wir beide darauf | |
brannten, etwas zu lernen. | |
Tamikah war eine untypische Studentin am Sarah Lawrence College, da sie | |
eine tiefreligiöse Muslimin war, die während des Unterrichts ein Kopftuch | |
trug. Bald schon bemerkte ich, dass die anderen Studierenden nie auf | |
Tamikahs Diskussionsbeiträge eingingen, als ob sie fürchteten, in eine | |
Falle zu tappen. Ich hingegen hatte noch keine Ahnung, was Political | |
Correctness bedeutete. Ich diskutierte mit einer Dringlichkeit, als hinge | |
meine eigene Zukunft und die von anderen in ähnlicher Lage vom Ausgang | |
unserer Gespräche ab. | |
Ich hatte gehofft, in Tamikah eine Seelenverwandte zu finden; in meiner | |
Vorstellung hatten wir eine Verbindung, weil wir mit ähnlichen | |
Schwierigkeiten zu kämpfen hatten, nicht nur als Fremde in der | |
Gesellschaft, sondern auch als Frauen, denen von Geburt an eine Religion in | |
restriktiver Weise aufgezwungen worden war. Aber sie sah das eindeutig | |
anders. | |
## Vielfalt darf nur Freude bereiten | |
Als wir uns mit der Funktion von Multikulturalismus in demokratischen | |
Gesellschaften und der Rolle der Religion beschäftigten, kam auch die Rolle | |
der Religionsfreiheit auf. Ich hatte inzwischen gelernt, mich erst einmal | |
zurückzuhalten. Die meisten anderen Studierenden bewegten sich in | |
wohlhabenden linksliberalen Kreisen und beschrieben Vielfalt als | |
persönliche Freude und Bereicherung – Toleranz als große gesellschaftliche | |
Errungenschaft. | |
Das überraschte mich nicht. Was mich erschütterte, war, wie auch Tamikah | |
diese Überzeugung vertrat. Genau das sei es, erklärte sie, was ihr erlaube, | |
Teil der amerikanischen Gesellschaft zu sein und zugleich ihr besonderes | |
kulturelles Erbe und ihre Religion zu leben: Sie konnte ihr Kopftuch tragen | |
und zugleich das College besuchen. | |
„Das ist ja alles schön und gut, aber was ist mit Leuten wie mir?“, platzte | |
es schließlich aus mir heraus. „Ich sitze in einer Welt fest, in der ich | |
dazu gezwungen bin, mich an religiöse Gesetze zu halten, die über der | |
Verfassung stehen. Ich bin Amerikanerin, aber meine Bürgerrechte zählen | |
nicht, weil meine Gemeinschaft anders entschieden hat. Und niemand läuft | |
Sturm, um meine Persönlichkeitsrechte zu schützen, nur weil die Rechte | |
einer Gemeinschaft wichtiger sind? Wie könnt ihr hier alle sitzen und mich | |
anstarren und sagen, dass alles, was ich durchgemacht habe, im Namen der | |
Toleranz in Ordnung sei? Was genau tolerieren wir? Ich muss die Tatsache, | |
dass ich jetzt hier bin, geheim halten! Ich könnte dafür bestraft werden, | |
weil ich eine Ausbildung möchte!“ | |
Ich wurde von meinen Emotionen regelrecht überrollt, das spürte ich. Mein | |
Gesicht glühte, ich zittere vor Zorn und Erregung. Ich musste den anderen | |
unbedingt klarmachen, dass ihre Haltung dazu führte, dass Menschen wie ich | |
sich abgelehnt fühlen, so als ob man uns das Tor zur Freiheit vor der Nase | |
zuschlägt. | |
## Menschliche Opfer liberaler Politik | |
Ich wandte mich an Tamikah. „Sag mir“, fragte ich sie, „kannst du wirklich | |
sagen, dass das Recht einer Gruppe auf Selbstbestimmung mehr wiegt als das | |
des Einzelnen? Bist du ernsthaft bereit, die Rechte der Frauen und Kinder | |
auf dem Altar religiöser Bräuche zu opfern?“ | |
Hier war ich auf den blasphemischen Schnittpunkt liberaler Politik | |
gestoßen: Die Rechte von Frauen sind unantastbar – bis die Religion von | |
Minderheiten ins Spiel kommt. Dies aber funktioniert nur, wenn jeder | |
willens ist, an seinem Platz zu bleiben. Tamikah war dafür ein | |
hervorragendes Beispiel. Sie beschrieb, wie glücklich sie darüber sei, ihr | |
Kopftuch zu tragen und das Leben zu leben, das für eine Frau in einer | |
muslimischen Gemeinschaft vorgesehen ist. | |
„Du bist eine sehr seltene Ausnahme“, sagte sie vorwurfsvoll. „Ich wette, | |
die meisten Leute in deiner Gemeinschaft bleiben gern da, wo sie sind. Und | |
wenn nicht, haben sie andere Möglichkeiten. Du selbst bist doch ein | |
Beispiel dafür, oder etwa nicht? Du bist hier. Auf der anderen Seite müssen | |
meine Rechte stärker geschützt werden als deine. Das Recht, anders zu sein, | |
braucht immer mehr Schutz, als das Recht, so wie die anderen zu sein.“ | |
Die anderen nickten eifrig, um sie zu unterstützen. Natürlich war diese | |
Äußerung für sie viel bequemer; als Anomalie konnte man mich viel einfacher | |
ablehnen. Niemand wollte sich der Tatsache stellen, dass es da viele andere | |
wie mich geben könnte, dass auch liberale Politik menschliche Opfer haben | |
könnte. | |
Die Annahme, dass jeder andere in meiner Welt außer mir glücklich war, traf | |
mich wie die mir vertraute Anklage, die meine Familie stets gegen mich | |
erhoben hat: Was stimmt nur nicht mit dir? Warum kannst du in dieser Welt | |
nicht glücklich sein? Mir wurde plötzlich klar: Zu bleiben, wo man ist, und | |
zu lernen, mit seinem Los zufrieden zu sein, wurde einem nicht nur von der | |
eigenen Gemeinschaft aufgenötigt, sondern auch von der Außenwelt! Meine | |
Unzufriedenheit, mein Unglück waren unerwünscht, wo auch immer ich sie zum | |
Ausdruck brachte. | |
Hier stand ich, am Toreingang einer freien Welt, und es war, als würde ich | |
abgewiesen. Es war, als sagte man mir, dass es für jeden einfacher wäre, | |
wenn ich keinen Wirbel machte. Es war der ultimative Betrug. | |
## Grob vereinfachende Toleranz | |
Ich freue mich, dass ich nicht dort geblieben bin, wo ich war. Ich habe | |
meine Gemeinschaft verlassen und zog später auch vom Klassenzimmer hinaus | |
in die wirkliche Welt, auf der Suche nach jenem Ort, wo Diskussionen | |
möglich sind. Leider muss ich aber auch berichten, dass ich diesen Ort noch | |
nicht gefunden habe, auch wenn ich heute in Berlin, einer der | |
progressivsten Städte der westlichen Welt, lebe. Denn hier ist die Debatte | |
über Toleranz gegenüber Muslimen ebenso schwarz-weiß wie jene in meinem | |
ersten Semester am College. Noch immer fühle ich mich jedes Mal persönlich | |
betrogen, wenn die unbequemen Stimmen eines angenehmeren Arguments zuliebe | |
übergangen werden. | |
Das komplexe Erbe liberaler Toleranz ist in Deutschland reduziert worden | |
auf eine grob vereinfachende Obsession mit dem Kopftuch. Unsere | |
Gesellschaft ist weiterhin auf erhabene, großzügige Weise nachsichtig mit | |
Gemeinschaften, die Kinder und Frauen unterdrücken, denn dann kann man sich | |
auf die Schulter klopfen für die eigene Großzügigkeit und weitermachen wie | |
bisher. Das ist viel einfacher, als für die Rechte jener zu kämpfen, die | |
gefangen sind zwischen der Herrschaft der Religion und der Nachsicht des | |
Staates. | |
Das wäre nach allem auch zu viel verlangt. Frauen wie ich haben immer schon | |
zu viel verlangt. Das wurde mir schon oft gesagt, und zwar in beiden | |
Welten, in meiner alten und in dieser neuen. Diese neue Welt ist nicht | |
frei, habe ich entdeckt, und solange Freiheit nur selektiv gilt, wird sie | |
bedeutungslos bleiben. | |
Aus dem Englischen: Christian Ruzicska, Joachim Zepelin | |
16 Oct 2016 | |
## AUTOREN | |
Deborah Feldman | |
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