# taz.de -- Spielzeit in Hamburg eröffnet: Haltlos in der Wirrnis | |
> Sperriger Hybrid aus Sprech- und Körpertheater: Im Stück „Wut/Rage“ | |
> kombiniert das Thalia-Theater einen Text Elfriede Jelineks mit einem von | |
> Simon Stephens. | |
Bild: Es wird gekotzt, gepisst, getanzt wie unter Strom: Der „Rage“-Teil de… | |
Die Bühne ist leer und dunkel, nur ein Absperrband ist zu sehen und eine | |
Brandschutzmeisterin, die dieses aufwickelt. Es ist etwas passiert, aber es | |
ist nicht klar, was. Die Brandschutzmeisterin redet, sie redet zum | |
Publikum, aber eigentlich ist es ein Selbstgespräch, ein verbalisierter | |
Gedankenstrom, sprunghaft und verworren. Es geht um Götter und Führer, es | |
ist AfD- und Pegida-Ideologie, aber nicht immer, man weiß es nicht genau. | |
Das Absperrband gehört zu den Auswirkungen eines Anschlags, das kann man | |
sich bald denken. Das Band kommt beim Aufwickeln an kein Ende, die | |
Brandschutzmeisterin redet und redet, alles dreht sich. „Eine Wirrnis habe | |
ich erreicht anstatt einer Wahrheit“, sagt die Brandschutzmeisterin und man | |
kann nur sagen: Stimmt. | |
Die Brandschutzmeisterin gehört zu dem Stück „Wut“ von Elfriede Jelinek, | |
das im Hamburger Thalia-Theater zum Spielzeitauftakt gezeigt wurde. | |
Allerdings nicht allein. Regisseur Sebastian Nübling hat Jelineks „Wut“ | |
kombiniert mit dem Stück „Rage“ des englischen Dramatikers Simon Stephens. | |
Die Stücke wechseln sich ab, von Zeit zu Zeit fließen sie auch ineinander. | |
„Wut/Rage“ heißt dieser zweistündige Abend, der in dieser Form eine | |
Uraufführung ist. | |
Jelinkeks „Wut“ entstand unter dem Eindruck der Anschläge auf die Redaktion | |
der Satirezeitschrift Charlie Hebdo und einen jüdischen Supermarkt im Osten | |
von Paris. Jelinek hat unmittelbar auf die Ereignisse reagiert, indem sie | |
einen Text schrieb, bei dem verschiedene Perspektiven, Meinungen, Gedanken | |
zu einer vielstimmigen Textfläche verknüpft werden. | |
Das ist sprachgewaltig, aber auch schwer zu rezipieren: Die Gedanken | |
strömen und wer sie hat und wo sie hinführen, ist nicht durch eine | |
Erzählung mit Charakteren und Handlung motiviert. Mal sprechen rechte | |
Wutbürger, mal Islamisten. Zu hören sind Sätze wie: „Wenn wir jemanden | |
umgebracht haben, werden wir unbesiegbar sein.“ Oder: „Jeder Mensch besiegt | |
jeden Gott, der nicht der seine ist.“ Oder: „Wir haben ein nationales | |
Interesse, ohne nationalistisch zu sein, das dürfen wir nicht.“ | |
Greifbarer ist das andere Stück, „Rage“. Autor Simon Stephens ließ sich | |
inspirieren von einer Fotoserie, die der Fotograf Joel Goodman in einer | |
Silvesternacht in Manchester schoss. Die Fotos zeigen junge Leute beim und | |
nach dem alkoholischen Absturz: Sie kotzen, sie liegen besoffen am Boden, | |
sie streiten sich, knutschen und prügeln sich mit Polizisten. Stephens hat | |
auf der Grundlage dieser Fotos Dialoge geschrieben. | |
Auf der Bühne sind dann sieben Leute im Party-Outfit zu sehen, von der | |
Decke hängt der Schriftzug „Happy“ und die sieben tanzen zu einem düsteren | |
Beat. Die Tänzer labern sich besoffen voll, monologisieren und schreien, es | |
geht um ihre Sehnsucht nach Gemeinschaft, ihre Zukunftsängste, ihre | |
Jobängste, ihre Geilheit und ihren Hass den anderen, also den Ausländern | |
gegenüber. | |
Auch bei „Rage“ gibt’s nichts, an dem man sich festhalten könnte. Keine | |
Protagonisten, Handlung, Höhepunkte, der Text produziert wie Jelineks | |
Sprachflächen in erster Linie Haltlosigkeit. Die Haltlosigkeit ist die | |
Schnittmenge der beiden Texte. Die Haltlosigkeit, und das vermitteln beide | |
Texte, gehört zu jeder Wut. Wie die wütende Haltlosigkeit zutage tritt, das | |
zeigt dieser Theaterabend. | |
Regisseur Nübling schickt Jelineks Brandschutzmeisterin und Stephens Tänzer | |
abwechselnd auf die Bühne. Während die Brandschutzmeisterin ausschließlich | |
am Text hängt, bieten die Tänzer ein deftiges Körpertheater: Es wird | |
gekotzt, gepisst und getanzt wie unter Strom, die Körper kommen nicht zur | |
Ruhe, werden durchgeschüttelt von den Verspannungen und Ängsten, die aus | |
dem Kopf kommen. „Die Sprache ist müde geworden“, sagt einer der Tänzer, | |
während er nicht aufhören kann, sich zu bewegen. | |
Das Nebeneinander von Sprachflächen und körperlichem Exzess ist Nüblings | |
Methode, die Wut zu erhellen. Schnell verstanden hat man, dass die Wut | |
strukturell die gleiche ist, egal ob sie von AfDlern oder Islamisten, von | |
frustrierten Alten oder perspektivlosen Jungen, von Nüchternen oder | |
Besoffenen kommt. Schnell versteht man auch, dass das Ventil der Wut Gewalt | |
ist, die Leute verrohen und der gute alte Streit als Prinzip der | |
Auseinandersetzung nicht mehr stattfindet. | |
Dennoch bleiben Jelineks „Wut“ und Stephens „Rage“ zwei sperrige Texte,… | |
allen Beteiligten einiges an Anstrengung abverlangen: Den Schauspielern, | |
die sich körperlich verausgaben beziehungsweise verschachtelte Monologe | |
rezitieren müssen und den Zuschauern, die sich mit der Wirrnis | |
auseinandersetzen müssen. Eine Wirrnis, die auch dadurch entsteht, dass | |
alles manchmal überraschend einfach wird: „Das Problem ist, wie üblich, | |
dass uns niemand liebt“, ist so ein Satz, der öfter fällt. | |
Hat sich die Anstrengung am Ende gelohnt? Die Antwort lautet: Bedingt. | |
„Wut/Rage“ ist ein Hybrid aus soziologischer Analyse und literarischem | |
Bewusstseinsstrom. Ein Hybrid aus Sprech- und Körpertheater. Es gibt starke | |
Momente. Aber auch viel Text, der vorbeirauscht. | |
23 Sep 2016 | |
## AUTOREN | |
Klaus Irler | |
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