| # taz.de -- Die „Engineers of Jihad“: Islamist + Ingenieur = Terrorist? | |
| > Unter den islamistischen Terroristen befinden sich auffällig viele | |
| > Ingenieure. Zwei Wissenschaftler versuchen, dieses Phänomen zu erklären. | |
| Bild: Ein Werk von Ingenieuren: 9/11 | |
| Terroristische Anschläge scheinen in der Öffentlichkeit den Reflex | |
| auszulösen, sich die religiöse Sozialisation, die Bildungswege, die | |
| Berufstätigkeiten, die kriminellen Karrieren, den Familienhintergrund, die | |
| sexuellen Präferenzen, die psychiatrischen Krankengeschichten, die | |
| Gewohnheiten in puncto Drogenkonsum oder Computerspielfrequenz der | |
| Attentäter anzusehen – wohl in der Hoffnung, über die Verortung der | |
| Attentäter in der Sozialstruktur Aufklärung über ihre Motive zu erhalten | |
| und somit zukünftig Anschläge von Personen mit ähnlichen | |
| sozialstrukturellen Merkmalen verhindern zu können. | |
| Je nach Blickwinkel geraten dann unterschiedliche Merkmale in den | |
| Mittelpunkt. Während es wenig verwunderlich ist, dass der überwiegende | |
| Anteil islamistischer, hinduistischer oder evangelikaler Attentäter einen | |
| starken religiösen Hintergrund hat, fallen andere soziostrukturelle | |
| Merkmale wie der hohe Prozentsatz von Kleinkriminellen unter den | |
| islamistischen Attentätern in Belgien und Frankreich oder der hohe Anteil | |
| von Personen mit psychischen Störungen unter terroristischen Einzeltätern | |
| auf. | |
| Der Soziologe Diego Gambetta und der Politikwissenschaftler Steffen Hertog | |
| haben jetzt ein ganzes Buch einem einzigen soziostrukturellen Merkmal | |
| islamistischer Terroristen gewidmet, das bereits nach den Anschlägen vom | |
| 11. September 2001 aufgefallen war – dem hohen Anteil von Ingenieuren unter | |
| den Attentätern. | |
| Acht der fünfundzwanzig an den Anschlägen auf das Pentagon und das World | |
| Trade Center beteiligten Terroristen waren Ingenieure. Aber auch der | |
| Nigerianer Abdulmutallab, der im Jahr 2009 versuchte, eine Maschine der | |
| Northwest Airlines auf dem Flug nach Detroit in die Luft zu jagen, sowie | |
| der Libanese Mohamed Game, der sich wenige Monate zuvor vor einer Kaserne | |
| in Mailand in die Luft sprengte, waren von der Ausbildung her Ingenieure. | |
| Mittels einer aufwändigen statistischen Erhebung weisen Gambetta und Hertog | |
| nach, dass der Anteil der Ingenieure unter den islamistischen Terroristen | |
| vierzehnmal höher ist, als man es beim Blick auf die erwachsene männliche | |
| Bevölkerung in ihren jeweiligen Herkunftsländern erwarten würde. | |
| ## Enttäuschte Aufstiegshoffnungen | |
| Dabei gelingt es den beiden Wissenschaftlern, diesen vergleichsweise hohen | |
| Anteil von Ingenieuren unter den islamistischen Terroristen für vier | |
| weitgehend voneinander isoliert agierende regionale Cluster in Südostasien, | |
| Nordafrika, Arabien und Palästina aufzuzeigen. Zwischen den | |
| Ingenieurwissenschaften auf der einen Seite und dem Extremismus auf der | |
| anderen Seite bestehe, so formulieren es Gambetta und Hertog in einem etwas | |
| schrägen Bild, demnach offensichtlich eine „Liebesbeziehung“. Wie aber | |
| lässt sich diese überraschende Kopplung erklären? | |
| Diego Gambetta und Steffen Hertog nutzen zur Begründung ihrer These eine – | |
| wie sie selbst sagen – leicht angestaubte soziologische Theorie: den Ansatz | |
| von der relativen Deprivation. Dieser Ansatz erklärt politisches Engagement | |
| im Allgemeinen und Bereitschaft zu terroristischen Aktivitäten im | |
| Besonderen mit nicht erfüllten Aufstiegshoffnungen. | |
| Nicht die Armut an sich führe also zu politischem Engagement, sondern | |
| enttäuschte Aufstiegshoffnungen. Islamistische Bewegungen und ganz | |
| besonders islamistische Terrorgruppen seien, so lautet die These von | |
| Gambetta und Hertog, zum Fluchtpunkt für jene Hochschulabsolventen | |
| geworden, deren Aufstiegshoffnungen aufgrund der ökonomisch prekären Lage | |
| in ihren Herkunftsländern enttäuscht wurden. | |
| Aber Diego Gambetta und Steffen Hertog vertrauen der Theorie von der | |
| relativen Deprivation zur Erklärung des hohen Anteils von Ingenieuren unter | |
| den islamistischen Terroristen nicht vollständig. Zu auffällig sind auch | |
| für sie die Lücken dieser Theorie: Wie lässt sich mit diesem Ansatz | |
| erklären, dass sich unter den islamistischen Terroristen auch | |
| überproportional viele Ingenieure finden, die in Europa studiert und | |
| gearbeitet haben? Versagt angesichts der guten Karrierechancen in | |
| westlichen Unternehmen nicht gerade bei ihnen der Ansatz von der relativen | |
| Deprivation? | |
| ## Theorie der „terroristischen Persönlichkeit“ | |
| Gefüllt wird diese Erklärungslücke von den beiden Terrorismusforschern mit | |
| einer schnell hingeworfenen Theorie der „terroristischen Persönlichkeit“. | |
| Ingenieure würden sich demnach durch die Vision einer eindeutigen sozialen | |
| Ordnung in Kombination mit stark regulierten alltäglichen Routinen | |
| besonders angezogen fühlen. Und die Ideologie, die dieses Bedürfnis | |
| besonders gut erfüllen könnte, sei – abgesehen von rechtsradikalen Gruppen | |
| – insbesondere bei islamistischen Gruppierungen zu finden. | |
| Dieser Ansatz erinnert an Theodor Adornos Theorie der autoritären | |
| Persönlichkeit, in der es darum ging, das „Faschismuspotenzial“ auf die in | |
| bestimmten Bevölkerungsgruppen verbreitete Autoritätshörigkeit | |
| zurückzuführen. | |
| Während Adorno aber noch davon ausging, dass Wertkonservativität, | |
| Autoritätshörigkeit und Feindseligkeit gegen andere Menschen ansozialisiert | |
| würden, halten Gambetta und Hertog es nicht für ausgeschlossen, dass die | |
| Neigung für politische Haltungen genetisch vererbt wird. | |
| ## Blinder Fleck | |
| Der von Gambetta und Hertog vertretene Ansatz hat einen blinden Fleck. Es | |
| mag zwar sein, dass der Anteil von Personen mit enttäuschten | |
| Aufstiegsambitionen in einer Protestbewegung besonders hoch ist, aber | |
| zugleich fällt auf, wie viele Personen mit enttäuschten Karriereambitionen | |
| sich nicht radikalisiert haben. So mag zwar ins Auge stechen, dass der | |
| Anteil von Ingenieuren unter den islamistischen Terroristen hoch ist, aber | |
| trotzdem ist nicht zu übersehen, dass ein Großteil der aus arabischen und | |
| nordafrikanischen Staaten stammenden Ingenieure nicht zu islamistischen | |
| Terroristen wurde. | |
| Selbstverständlich sind soziostrukturelle Merkmale für die Frage, ob jemand | |
| zum Terroristen wird, relevant. Die meisten islamistischen, aber auch die | |
| meisten rechtsextremen Terroristen sind Männer, während der linksextreme | |
| Terrorismus – jedenfalls in Deutschland – die Erwartungen auf die | |
| Gleichstellung von Mann und Frau schon weitgehend erfüllt. | |
| Ein gemeinsames Merkmal von religiösen Extremisten wiederum ist ein | |
| vergleichsweise hoher Anteil von Jugendlichen unter den Gewalttätern, | |
| während der Anteil von Senioren bei den Extremisten, die zu Steinen, | |
| Messern oder Kalaschnikows greifen, vergleichsweise gering ist. | |
| ## Soziostrukturelle Merkmale erklären wenig | |
| Allein für sich genommen erklären diese soziostrukturellen Merkmale jedoch | |
| vergleichsweise wenig. Interessanter ist, in welchen sozialen Formationen | |
| sich die Neigung zu terroristischen Aktivitäten ausbilden kann. | |
| So fällt bei den islamistischen Terroristen in Belgien und Frankreich auf, | |
| dass die Radikalisierung innerhalb von Familien abgelaufen ist. Bei den | |
| salafistischen Extremisten in Deutschland spielt sich die Radikalisierung | |
| häufig in Freundesgruppen ab, die für ihre Mitglieder immer mehr zum | |
| zentralen sozialen Bezugspunkt werden. In terroristischen Organisationen | |
| sind wiederum Personen mit sehr heterogenen Ausbildungen und Motiven | |
| engagiert. | |
| Erst wenn man die Funktionsweise dieser unterschiedlichen sozialen | |
| Formationen von Terroristen in den Blick nimmt, begreift man, warum bei den | |
| Linksextremen so viele Sozial- und Geisteswissenschaftler vertreten sind | |
| oder bei den Islamisten so viele Ingenieure. | |
| 14 Sep 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Stefan Kühl | |
| ## TAGS | |
| Islamismus | |
| Terrorismus | |
| Lesestück Recherche und Reportage | |
| 9/11 | |
| Ansbach | |
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