# taz.de -- Olympiasiegerin aus Brasilien: Aus der Hölle aufs Podest | |
> Die Judoka Rafaela Silva holt die erste Goldmedaille für Brasilien. Sie | |
> ist unterprivilegiert, schwarz, eine Frau und – der Stolz einer Nation. | |
Bild: Rafaela Silva ist ein umjubelter Star | |
Der Name ist eigentlich nur ironisch zu verstehen. Die „Cidade de Deus“ | |
(Stadt Gottes), ist ein Elendsviertel im Westen von Rio de Janeiro, das | |
eigentlich Stadt der Hölle heißen müsste. Sie wurde am Reißbrett entworfen | |
für die vielen Landflüchtlinge aus dem Nordosten, die nach Dürreperioden in | |
der Großstadt nach Arbeit suchten. Eine seelenlose Anreihung von | |
identischen Billigreihenhäuschen mit unverputzten Wänden und losen | |
Stromkabeln für insgesamt etwa 40.000 Menschen. | |
Hier regierten jahrzehntelang Gewalt und Bandenkriege. In den 1960er bis | |
80er Jahren galt die Favela als gefährlichster Ort von ganz Rio de Janeiro, | |
bis die Drogenbanden vom massiven Polizeieinsatz 2009 vertrieben wurden. | |
Der Schriftsteller Paulo Lins ist hier aufgewachsen. Er schrieb unter | |
anderem die Vorlage für den oscarnominierten Film „Cidade de Deus – City of | |
God“. Ein kleiner Junge, genannt Buscapé (etwa: Suchfuß), steht im Zentrum | |
der Handlung. Schon als Kind träumt er davon Pressefotograf zu werden, | |
gerät aber immer wieder in die blutigen Auseinandersetzung zwischen Drogen- | |
und Waffenbanden. Sein Gegenspieler, Zé Pequeno, hat bereits mit acht | |
Jahren Dutzende Leute bei einem Überfall auf dem Gewissen und rennt fortan | |
mit kindlicher Arglosigkeit und gleichzeitiger Lust am Töten mit der Waffe | |
im Anschlag herum und schießt auf alles, was sich bewegt. Auf Frauen, auf | |
Hühner, auf Kleinkinder. | |
Kleine Kinder sind es auch, die ihn später erschießen, die Herrschaft über | |
die Favela an sich reißen und die Gewaltspirale weiterdrehen. Ein | |
trostloses Leben ohne Aussicht auf Entkommen. Buscapé schafft es im Film | |
mit viel Glück und einem Praktikum bei der Zeitung, dem Elend von Cidade de | |
Deus – auch CDD genannt – zu entkommen. Ein kleines Happy End in einer | |
insgesamt grausigen Geschichte. | |
## Judo als Jugendschutzprogramm | |
Einem großen Happy End in der nicht minder tristen Realität konnten die | |
Carioca mit der ganzen Welt als Zeuge am Montag beiwohnen: Rafaela Silva, | |
24-jährige Judoka aus ebendiesem Viertel CDD, besiegte die Mongolin | |
Dorsürengiin Sumiyaa und holte in der Kategorie bis 57 Kilogramm Gold. Das | |
erste Gold für die Nation. Und nun liegt ihr das Land zu Füßen. | |
Rafaela Silva wurde 1992 als Tochter eines Gelegenheitsarbeiters und einer | |
Hausfrau geboren. Zunächst spielte sie Fußball, geriet dabei aber immer | |
wieder mit den Jungs aneinander, die sie nach Aussage ihrer Schwester | |
Raquél „verdrosch“. Die Eltern wollten ihre Töchter von der Straße | |
fernhalten. Also meldeten sie die Schwestern zum Judo an, Rafaela war | |
damals 7 Jahre alt. Trainer Flávio Canto war so begeistert vom Talent der | |
beiden, dass er die Eltern bat, sie dauerhaft im Judozentrum zu lassen. | |
Doch dann wurde Raquel schwanger und zog sich eine Knieverletzung zu – das | |
Aus für ihre Karriere. Rafaela aber kämpfte weiter. Mit Erfolg. 2011 gewann | |
sie als 19-Jährige bei den Panamerikanischen Spielen in Mexiko Silber. Ein | |
Jahr später schaffte sie es zu den Olympischen Spielen in London. Doch | |
wegen eines unerlaubten Tritts gegen ihre Gegnerin wurde sie | |
disqualifiziert. Es brach ein rassistischer Shitstorm über sie herein. „Ich | |
war sehr traurig, weil ich den Kampf verloren habe“, sagte Silva in einem | |
Interview. „Ich ging in mein Zimmer und entdeckte all diese Beleidigungen.“ | |
Sie sei ein Affe, twitterten einige, der in den Käfig gehöre, eine Schande | |
für ihr Land. Eine Userin drohte ihr – ganz kolonialistisch – mit der | |
Peitsche. | |
Rafaela reagierte geschockt, überlegte, mit dem Judo aufzuhören, | |
gerichtlich gegen die rassistischen Twitterer vorzugehen. Dann tweetete | |
sie: „Ja, ich habe verloren. Ich bin ein Mensch und mache Fehler, wie alle. | |
Aber ich weiß, dass ich mich für 2016 qualifizieren kann.“ Sie rappelte | |
sich auf und kämpfte weiter. Ein Jahr später dann, bei den | |
Judoweltmeisterschaften in ihrer Heimatstadt, setzte sie sich gegen die | |
US-Amerikanerin Marti Malloy durch und holte Gold. Als erste Brasilianerin. | |
Und nun, erneut in ihrer Heimatstadt, gewinnt sie als Erste für ihr Land | |
eine Goldmedaille bei diesen Olympischen Spielen. | |
Ihr Jubel ist tränenreich, ihr Ausdruck schmerzhaft und erleichtert | |
zugleich. Nach dem Sieg sinkt sie auf die Knie. Dann rennt sie zu ihrem | |
Trainer, umarmt ihn lange, bis sie zur Tribüne läuft und zu ihren Fans | |
hochklettert, die Schilder hochhalten mit dem Spruch „Cidade de Dios ist | |
der größte Rausch“ – in Anspielung auf die Zeit des florierenden | |
Drogenhandels. | |
Heute wird Rafaela Silva als Stolz der Favelas gefeiert, als Ikone der | |
Schwarzen, als Heldin aller Frauen. | |
9 Aug 2016 | |
## AUTOREN | |
Sunny Riedel | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Olympische Spiele 2021 | |
Brasilien | |
Favelas | |
Schwerpunkt Olympische Spiele 2021 | |
Schwerpunkt Olympische Spiele 2021 | |
Schwerpunkt Olympische Spiele 2021 | |
Schwerpunkt Olympische Spiele 2021 | |
Schwerpunkt Olympische Spiele 2021 | |
Schwerpunkt Olympische Spiele 2021 | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Die Zuschauer bei Olympia: Kein Fairplay, aber ehrliches Gebrüll | |
Die brasilianischen Fans werden kritisiert, weil sie die eigenen Athleten | |
anfeuern. Und Gegner verunglimpfen. Warum denn eigentlich nicht? | |
Hass auf Julia Jefimowa bei Olympia: Moralischer Volkssturm | |
Die russische Schwimmerin wurde, obwohl sie nicht gewonnen hatte, | |
ausgebuht, geschnitten, missachtet: Was für eine Heuchelei! | |
Olympianacht in Rio: Happy End für Rocky IV | |
Den Kalten Krieg im Schwimmbecken gewinnen die USA. Die erste | |
brasilianische Goldmedaille kommt aus der Favela und Usain Bolt kommt auch | |
noch. | |
Olympia im ungarischen Fernsehen: Gold und ein fehlender Name | |
Ungarn jubelt über Gold für eine Schwimmerin. Und streitet über einen | |
Kommentator, der den Namen einer syrischen Olympionikin nicht erwähnte. | |
Frauen-Rugby bei Olympia 2016: Kontaktsport mit Flow | |
Zum ersten Mal seit 1924 ist Rugby wieder olympisch. Am Montag kämpfen die | |
Frauen um Gold. Ein Besuch bei den weiblichen Spitzenteams. | |
Olympianacht in Rio: Männergekreisch am Beckenrand | |
Michael Phelps pflügt die USA auf 4 x 100 Meter zur Goldmedaille – und der | |
Kosovo hat seine erste Medaillenträgerin. |