| # taz.de -- Die Wahrheit: Schriftsteller im Netz | |
| > Unsere Schwerintellektuellen sind mit einem Augenzwinkern im Internet | |
| > unterwegs – und um Werbung für sich selbst zu machen. | |
| Bild: Verzweifelt an einem Fragebogen, den auch Marcel Proust nicht ausgefüllt… | |
| Neulich fuhr ich mit meinem Fahrrad in die glitzernde Traumwelt, die wir | |
| uns angewöhnt haben „Universität“ zu nennen, und filmte dabei mit meinem | |
| Smartphone eine soziologische Hammerthese, die ich mir gerade ausgedacht | |
| hatte. Also, ich filmte mich selber und sprach über passiv-aggressives | |
| Nicht-Liken im Internet. | |
| An der roten Ampel wollte ich gerade auf „Send“ drücken, da bremste neben | |
| mir mein alter Freund Florian sein Monster-Bike. „Naa, ,zwitscherst' du | |
| wieder?“ – „Nein, ich bringe gerade Schönheit und Kritik in die Welt. Was | |
| ist denn deine ,Kultur des Wartens‘, Kollesche?!“ – „Ich bin jetzt auch… | |
| Facebook!“ – „Aha.“ Ich musste weinen. | |
| „Woher wusstest du das?!“ – „Nun“, hob ich an, „Schriftsteller erke… | |
| an ihren Fahrrädern. Und im Internet daran, dass sie sich 2016 widerwillig | |
| angemeldet haben. Bei, natürlich, Facebook.“ – „Soso, und was machen die | |
| da?“ – „Nun, sie verbreiten ihre eigenen Bücher, Lesungstermine oder | |
| Zeitungstexte. Niemals andere Sachen, schon gar nicht Fotos, denn das sind | |
| absolut vor der Gier und dem Datenhunger amerikanischer Unternehmen zu | |
| schützende Güter“, erläuterte ich. | |
| „Und Texte der Kollegen?“, fragte er. „Werden dann geteilt und mit einem | |
| Daumen veredelt, wenn es um die eigene Sache geht. Also Rezensionen der | |
| eigenen Bücher.“ – „Ist doch normal!“ – „Genau. Und das Schöne is… | |
| Schriftsteller dabei dem gemeinen Internetpöbel moralisch überlegen sind, | |
| denn ihnen ist Selbstinszenierung oder gar Like-Raffgier fremd.“ | |
| „Verstehe“, sagte Florian. „Viele betreiben im Internet ja auch einen | |
| Wikipedia-Eintrag und eine ,Homepage'. Woran erkenne ich das?“ – „Den | |
| Wikipedia-Eintrag erkennst du daran, dass sämtliche Schriften des | |
| Schriftstellers – ja, es sind Männer aus den achtziger Jahren, von denen | |
| ich spreche – aufgeführt werden. Das vollständige Literaturverzeichnis ist | |
| überschrieben mit ,Auszug‘ in Klammern. Das Verzeichnis beginnt mit den | |
| ersten Einträgen in der Abi-Zeitung aus den frühen Achtzigern und endet mit | |
| den Werken, die noch ,im Erscheinen' (!) sind.“ – „Haha, der alte | |
| Indianertrick!“ Florian lernte schnell. | |
| „Die von einem IT-Freund gebaute Homepage wird alle paar Monate um neue | |
| Lesungstermine ,aktualisiert‘. Du erkennst die Seite daran, dass sie mobil | |
| nicht funktioniert und mit 3-D-Effekten arbeitet. Das rotierende Logo hat | |
| auch der IT-Freund gebaut.“ | |
| Jetzt kam ich richtig in Fahrt. „Und auf der Homepage gibt es einen | |
| langatmigen Rechtfertigungstext, der einerseits alles Mögliche anklagt | |
| (Amerika, Datenhunger etc.), anderseits nachdenklich einen Bogen schlägt zu | |
| den Anforderungen unserer Zeit und der einsamen Position desjenigen, für | |
| den Bücher immer noch einen haptischen Wert besitzen. Und sämtliche | |
| Begriffe, die nach 1994 entstanden sind, werden mit ironischen | |
| Distanzierungshäkchen versehen, also zum Beispiel ,Zwitschern' “. Florian | |
| gefror das Blut. | |
| Die Ampel sprang auf Grün, wir sattelten unsere Bikes und fuhren schweigend | |
| der Abendsonne entgegen. | |
| 24 Aug 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Gerald Fricke | |
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