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# taz.de -- Gemeinnütziges Musikprojekt „Musethica“: Der Körper ist eine …
> Avri Levitans ungewöhnliches „Musethica“-Projekt spielt Konzerte mit
> veränderter Hierarchie – die Zuhörer geben den Musikern etwas, nicht
> umgekehrt.
Bild: Und plötzlich sind alle ganz ruhig: das „Musethica“-Projekt in der B…
Alexander ist ein blonder Junge mit großen blauen Augen, ungefähr vierzehn
und ein bisschen hibbelig. Vielleicht ist er aufgeregt, gleich geht das
Konzert los. Er will sich neben mich setzen, da ist noch frei. Nach und
nach nehmen auch seine Klassenkameraden Platz. Wir sitzen mit Blick auf den
Innenhof der Helene-Haeusler-Schule in Berlin-Mitte. Avri Levitan und die
jungen Musiker von Musethica, vier Frauen und ein Mann, haben sich in der
Ecke des Raums versammelt, wo einige Pflanzen stehen. Sie warten auf ihren
Auftritt.
Ein junger Mann tritt von der Seite vor die Fensterfront. Julian Scott
kommt aus Schottland und studiert wie seine Kolleginnen an der Hochschule
für Musik Hanns Eisler Berlin. Er führt die Oboe zum Mund und beginnt zu
spielen. Binnen Sekunden sitzen die gut zwanzig Teenager gebannt da und
hören Carl Philipp Emanuel Bachs Konzert für Oboe und Streichquartett, hier
allerdings ohne Streicher.
Manche hören konzentriert zu, manche blicken entrückt ins Nirgendwo. Die
Musik scheint sie in einen anderen Raum zu transportieren. Als der letzte
Ton verklungen ist, brechen alle spontan in Applaus aus. Diese Kinder sind
das Publikum, das seine Musiker brauchen, glaubt Avri Levitan.
Levitan wurde 1973 in Tel Aviv geboren, heute lebt er in Berlin. Seit
vielen Jahren spielt er Bratsche. Als Solist trat er in den bedeutendsten
Konzertsälen der Welt auf. Heute hat er keine Zeit mehr dazu, weil er
ständig unterwegs ist, um sein Projekt voranzutreiben. In Deutschland,
Spanien, Israel, Polen, Schweden und China ist Musethica aktiv, aus vielen
weiteren Ländern gibt es Anfragen. Das Ziel ist, regelmäßige Konzerte in
sozialen Einrichtungen zum regulären Teil der Ausbildung in den
Musikhochschulen zu machen.
## Die Zuhörer spüren das sofort
Als die Idee vor sieben Jahren in einer spanischen Kleinstadt entstand,
hatte Levitan noch nicht im Sinn, die Ausbildung exzellenter Musiker zu
revolutionieren. „Wir haben zwei Stunden an einem Bach-Satz gearbeitet, und
dann mussten wir ihn durchspielen“, erzählt Levitan.
„Ich wollte aber nicht, dass der Schüler nur für mich oder seine Kollegen
spielt. Da habe ich das Fenster aufgemacht und mit israelischer Chutzpa die
zwei jungen Männer angesprochen, die auf unserer Straße immer auf Kunden
warteten, denen sie Haschisch und Kokain verkauft haben. Ich habe sie
hereingebeten – und von der Schulverwaltung nachher viel Ärger bekommen. In
den zehn Minuten, in denen sie Bach hörten, waren die beiden keine
Keinkriminellen. Sie waren unser Publikum.“
Beim nächsten Mal bat Avri eine Putzfrau zuzuhören, und bald organisierte
er für seine Schüler das erste Konzert vor sechzig behinderten Kindern.
„Wir wollten unter anderem ‚Ciaccona‘ spielen, einen berühmten Satz der …
Partita für Violinsolo von Bach. Er dauert lange, ungefähr 15 Minuten, und
ist für uns Musiker sehr kompliziert zu spielen.
Kurz bevor wir anfingen, kamen die Zweifel: Was mache ich hier eigentlich?
Die armen Kinder! Ich bin egoistisch und denke nur an meine Studenten! Dann
aber erlebten wir eine Reaktion, mit der wir nicht gerechnet hatten. Die
Aufmerksamkeit der Kinder war viel größer als bei den ‚leichten‘ Stücken.
Meine Folgerung war: Wir dürfen die komplizierten Stücke, die wir immer
spielen wollen, für die wir aber auch in den großen Konzerthäusern ständig
kämpfen müssen, vor diesem Publikum spielen!“
## Sie wollen für Kriminelle spielen
Soziale Musikprojekte gibt es schon lange, und es sei wunderbar, dass es
sie gibt, sagt Levitan. In den USA wird seit Jahrzehnten die Idee verfolgt,
in „Outreach“-Programmen klassische Musik für diejenigen zu spielen, denen
sie fremd ist, die sich Konzertkarten nicht leisten können. „Wer aber in
dem Bewusstsein spielt, er tue ‚den armen Leuten‘ etwas Gutes, der spielt
nicht gut“, sagt Levitan.
Er legt Wert darauf, dass nur die Besten an den Workshops und Seminaren von
Musethica teilnehmen, die mit den Musikhochschulen organisiert werden.
„Junge Musiker kämpfen inzwischen darum, im Gefängnis, im Krankenhaus, im
Obdachlosenheim, vor Schülerinnen und Flüchtlingen spielen zu dürfen. Sie
spielen, als ob es das wichtigste Konzert ihres Lebens sei. Die Zuhörer
spüren das.“
In der Helene-Haeusler-Schule werden weitere Stücke gespielt, zu zweit und
im Quartett. Die meisten sind eher selten in Konzertsälen zu hören, alle
gelten als kompliziert, sind also, möchte man meinen, schwer zugänglich für
die Jugendlichen. Diese Vermutung haben die meisten Lehrer,
Krankenschwestern und Sozialarbeiter der Institutionen, in denen Musethica
Konzerte gibt. Vor dem ersten Mal kommt es oft vor, dass sie bei Avri
Levitan um Verständnis werben: Ihre Klienten könnten sich nur schwer
konzentrieren, man müsse sich auf eine schwierige Situation gefasst machen.
Nach den Konzerten reagieren sie überrascht. 45 Minuten konzentrierte Ruhe,
das hätten sie noch nie erlebt, erzählen sie dann.
Die Lehrer der Helene-Haeusler-Schule sind über die Phase der Verwunderung
schon hinaus. Musethica war schon mehrmals in ihrer Schule zu Gast, die
den sonderpädagogischen Förderschwerpunkt „Geistige Entwicklung“ hat und
sich als Lern- und Erziehungsgemeinschaft versteht, in der Respekt,
Empathie und Toleranz herrschen sollen. „An den Tagen der Konzerte fällt
die Arbeit viel leichter“, sagt eine Lehrerin. „Die Kinder sind ruhiger,
aufgeschlossener und fröhlicher.“
## „Man merkt, wenn die Konzentration abflacht“
Gutes Timing hilft: „In der Hofpause können sich die Kinder auspowern. Dann
geht’s ins Konzert.“ Munter werden die Kinder, als Aleke Alpermann, sie ist
zum ersten Mal dabei, die „Sonate für Cello solo“ des ungarischen
Komponisten Zoltán Kodály gibt, an dem sie schon lange arbeitet. Kodály hat
sich mit ungarischen Volksliedern beschäftigt, deren Rhythmen in der Sonate
immer wieder hervorbrechen.
In der ersten Reihe wippt ein Junge auf und ab im Einklang mit dem wilden
Rhythmus, der ganze Körper eine Antenne. Alexander neben mir kann auch
nicht mehr an sich halten, er spielt Schlagzeug in der Luft. Bei einer
besonders ekstatischen Stelle lacht jemand kurz und vergnügt auf.
„Man merkt sofort, wenn die Konzentration abflacht. Dann kann man beim
nächsten Mal versuchen, an dieser Stelle besser mit der Aufmerksamkeit der
Hörer zu spielen“, sagte Aleke Alpermann danach. „Bei diesen Konzerten
bekommen wir deutliche Reaktionen, die wir so in der Philharmonie nicht
bekommen“, ergänzt Levitan. „Ein Akkord, ein Sforzando, bei denen dem
Publikum unwillkürlich ein ‚Ahh!‘ entfährt – das wollen wir als Musiker
erreichen.“
Beim nächsten Stück, es ist von Paganini, beginnt ein Junge in einer
Fantasiesprache mitzusingen, die Melodie passt zum Vorspiel von Hande
Küden. Sie kommt aus der Türkei und hat vor Kurzem eine Stelle als
Konzertmeisterin am Deutschen Symphonie-Orchester Berlin bekommen.
## Diese Konzerte sind Geschenke
Bei Musethica wird die Hierarchie des Gebens und Nehmens auf den Kopf
gestellt. Es sind die Zuhörer, die den MusikerInnen etwas geben, nicht
umgekehrt: „Das ist überhaupt das Schwerste für uns Musiker: Wir müssen uns
vorstellen, wie es klingt. Wir müssen uns also selbst zuhören. Wenn es aber
Zuhörer im Raum gibt, machen wir das automatisch, unbewusst“, sagt Levitan.
Zuhören sei nicht so einfach. Nicht alle könnten gut zuhören, auch manche
Musiker nicht. Aber die Kinder, die Kranken und die Obdachlosen könnten es
meist sehr gut. „Andererseits gilt: Perfekte Musiker stören die Zuhörer
nicht. Klingt banal, ist aber sehr schwer.
Als Musiker musst du genauso loslassen, damit die Musik dich spielen kann.
An den Kindern oder bei psychiatrischen Patienten kann man beobachten, was
passiert, wenn die Musiker nur für einen Moment aus diesem Fluss
heraustreten: Dann verlieren sie die Aufmerksamkeit. Wenn das Spiel nicht
stimmt, merkt man das sofort. Deswegen sind diese Konzerte Geschenke für
uns Musiker.“
Avri Levitan bedankt sich bei den Schülern und stellt die Musikerinnen vor.
Unter ihnen sind noch zwei weitere Violinistinnen, Lara Fernández Ponce aus
Spanien und Elvira van Groningen aus den Niederlanden. Die Schüler wollen
wissen, woher die Musiker kommen und seit wann sie ihre Instrumente
spielen. Schließlich meldet sich Salman aus Wedding zu Wort. Er ist
Mozart-Fan und immer noch begeistert von dem Konzert: „Heut Nacht träum ich
davon. Dann wird’s krass!“
13 Aug 2016
## AUTOREN
Ulrich Gutmair
## TAGS
Klassik
Pädagogik
Soul
Global Pop
arabisch
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