# taz.de -- Briefe von Schriftsteller Hubert Fichte: Wer Angst hat, lebt noch | |
> Hubert Fichtes Briefe an seine Partnerin Leonore Mau sind von einer | |
> Zartheit geprägt, die in seinem Werk sonst nicht auftaucht. Sie sind ein | |
> Glücksfall. | |
Bild: Papier und Füller – so könnten Hubert Fichtes Schreibutensilien ausge… | |
„Das Land, das ich beschreibe, gibt es nicht mehr“, schreibt Hubert Fichte | |
im Mai 1985 aus Agadir an seine Lebens- und Arbeitspartnerin Leonore Mau. | |
Fichte, der im März 1986 im Alter von 50 Jahren gestorben ist, war noch | |
einmal nach Marokko gefahren, um sich des Ortes zu vergewissern, an dem der | |
Roman „Der Platz der Gehenkten“ spielt, an dem er gerade noch schrieb. Der | |
Platz der Gehenkten (Djemme el Fna) ist dabei nicht nur ein Titel, sondern | |
auch ein tatsächlicher Name eines Ortes in Marrakesch. Fichte hatte die | |
Geschichte des Romans buchstäblich an einer existenziellen Erfahrung | |
aufgehängt, die ihn um den 1. April 1970 bedrängte. | |
Damals hielt er sich in Marokko auf, und Leonore Mau hatte ihm per Brief | |
mitgeteilt, dass sie am 1. April einen bestimmten Flug nehmen wolle. Das | |
Flugzeug stürzte ab, und Fichte musste lange – länger jedenfalls, als es | |
heute der Fall wäre – befürchten, dass Mau unter den Toten war. Mau hatte | |
sich aber kurzfristig umentschieden und den Zug genommen. Es ist diese | |
Angst in der Zeit der Ungewissheit, die Fichte im Roman immer wieder | |
auftauchen lässt und von der man nicht weniger sagen kann, als dass sie | |
nicht täuscht: Die Angst täuscht nicht, sie ist ein wirklicher Moment nicht | |
nur existenzieller Selbstvergewisserung. Wer Angst hat, lebt noch, und das | |
nicht allein. | |
Die Briefe Hubert Fichtes an Leonore Mau, die vor wenigen Tagen erschienen | |
sind, spiegeln auch diese Momente der Angst in ihrem Augenblick. Und sie | |
lassen sich in ihrer Gesamtheit und sorgfältigen herausgeberischen | |
Bearbeitung als ein doppelter Einspruch lesen: gegen Fichtes lebenslange | |
Unsicherheit gegenüber der Nachträglichkeit der Schrift und seine Ablehnung | |
des Briefes als aufhebbaren Text. | |
Fichte mochte die Briefform nicht, ihre Sätze waren für ihn eine | |
unvollkommene Äußerung zwischen dem gesprochenen Wort, der Notiz und dem | |
tatsächlichen zur Veröffentlichung gedachten Text. Deshalb hatte er auch | |
kurz vor seinem Tod verfügt, alle privaten Zeugnisse, wie Briefe und seine | |
Tagebücher, zu vernichten. Leonore Mau war der Verfügung auch gefolgt, | |
hatte es aber wohl nicht übers Herz gebracht, die von Fichte an sie | |
geschickten Briefe wegzuwerfen. Nachdem Mau im September 2013 verstarb, | |
fand man das Bündel dieser Briefe in ihrem Nachlass und hat sie nun | |
veröffentlicht. | |
## Nicht nur für Fichte-Fans | |
Und natürlich ist das ein Glücksfall und natürlich könnte man jetzt auch | |
noch gleich hinterher versichern, dass die Briefe nicht nur für | |
Fichte-Aficionados superspannend zu lesen sind. Das wäre aber kompletter | |
Unsinn, weil man als Fichte-Aficionado nicht wissen kann, wie es | |
Nicht-Fichte-Aficionados so geht beim Lesen dieser Briefe. | |
Ihre Spannung entwickeln sie nämlich vor allem in der direkten | |
Auseinandersetzung mit dem Blick in die Werke, an denen er während der | |
Briefzeit gerade arbeitet oder über die er gerade nachdenkt. Wenn man zum | |
Beispiel in den „Platz der Gehenkten“ wieder hineinliest, fallen seine | |
Themen ziemlich unvermittelt in die direkte Aktualität. Neben der Angst | |
spiegelt der Roman vor allem Fichtes Auseinandersetzung mit dem Koran, nur | |
in umgekehrter Struktur. | |
Während die Texte des Koran nach hinten, von Sure zu Sure immer kürzer | |
werden, werden die Texte des „Platzes der Gehenkten“ immer länger und immer | |
unkoranischer. Es kommt ihm zum Beispiel auf dem Fahrrad ein ganz von | |
seiner Djellabah Verhüllter entgegen. Beider Blick verhaken sich, der Mann | |
auf dem Fahrrad steigt ab und „rafft die Djellabah hoch und im Mondlicht | |
wippt ein heidnischer Schwanz“. Wenn man weiter nach den entsprechenden | |
Verweisen auf Fichtes ersten Aufenthalt in Marokko sucht, dann stößt man | |
zuerst auf die Feier des freizügigen homosexuellen Lebens, das dort | |
außerhalb gesetzlicher Verfolgung möglich ist. | |
Wobei das herausragende Merkmal solcher Szenen und Sätze in den Briefen wie | |
den veröffentlichen Werken ist, dass sie, auch wenn das Land nicht mehr das | |
ist, was er beschreibt, etwas anklingen lassen, das an jedem Ort etwas | |
möglich macht, das die Körper in Schwingung bringt. | |
In den Briefen wird das besonders auffällig, wenn er über Tiere schreibt. | |
Fichte hat ein Auge und Ohr für Vögel, und in kurzen, lateinisch klaren | |
Sätzen beschreibt er dann die Farbe und die Töne eines Vogels ohne | |
spezifischen Namen. Und Farben und Töne reichen vollkommen, in Fichtes | |
Tonfall erscheinen sie tausendmal wirklicher als der Name, und sie machen | |
es sehr wahrscheinlich, dass Leonore Mau solche Sätze mit den Farben und | |
Tönen mochte. Wie einem überhaupt an manchen Stellen in den Briefen eine | |
Zartheit anspringt, die so im Werk nicht auftaucht. | |
An Mitgefühl fehlte es Fichte nie. Selbst wenn er scheinbar schroff | |
schreibt, wie im Mai 1962, bekommt er immer noch die Kurve. „Ich ficke viel | |
und hoffe von Dir das gleiche“, schreibt er und fährt fort: „Ich habe ein | |
paar gute Geschichten. Suhrkamp will mein Stück nicht. Der Arsch! Ich war | |
niedergeschlagen.“ Zum Ende des Briefes lässt er dann den Maiskolben grüßen | |
und schließt mit „Vive la Trance Hubert“. Wie man aus den Anmerkungen | |
erfährt, hing zu jener Zeit in Maus Wohnung in Hamburg ein Maiskolben an | |
der Wand, der auch in Fichtes Werk in doppelter Funktion vorkommt. | |
## Gegenseitige Hochschätzung | |
Leonore Mau, 20 Jahre älter als Fichte, war damals noch verheiratet, und | |
die beiden wohnten noch nicht zusammen. Fichte besuchte sie aber | |
regelmäßig, weil er meinte, dass Regelmäßigkeit zu einem Verhältnis mit | |
einer verheirateten Frau gehöre. Und es ist mit Sicherheit der zärtlichste | |
Aspekt dieser Briefe, wie sie langsam nachvollziehbar machen, dass der Kern | |
oder die zusammenhaltende Kraft dieser Beziehung die gegenseitige | |
Hochschätzung der Arbeit des jeweils anderen war. | |
Mau arbeitete als Fotografin und verdiente ihr Geld unter anderem, indem | |
sie für Magazine wie den Stern Architektur fotografierte, einschließlich | |
der Villen von Prominenten. Mit den Briefen wird man so in die Villa des | |
Komponisten Hans Werner Henze in der Nähe von Rom geführt, in das Haus des | |
Publizistenpaares Petra und Uwe Nettelbeck in Luhmühlen in der Nähe von | |
Hamburg wie auch die Villa von Rudolf Augstein auf Sylt. | |
Wobei Fichte sich nicht nur darum bemüht, Arbeitsmöglichkeiten für Mau | |
ausfindig zu machen, er nimmt auch wirklichen Anteil am Prozess ihrer | |
Arbeit und liebt ihre Fotos. Es gibt nicht die geringste Andeutung von | |
Überheblich- oder Gleichgültigkeit gegenüber den Ideen und Arbeiten Maus, | |
was angesichts der vielen Reisen und des Arbeitspensums der beiden immer | |
noch wie utopische Verwirklichung einer Unmöglichkeit wirkt. | |
Wenn man schon nach einem die Fichte-Begeisterung übersteigenden Aspekt | |
dieser Briefe suchen will, dann liegt er im über Jahre anhaltenden Ton der | |
Begeisterung für die Arbeit des anderen. Das Leben der beiden ist das | |
wirkliche Gegenprogramm zu dem einseitig verbrauchenden Lebensstil von | |
Künstlerpaaren, wie Klaus Theweleit sie beschrieben hat. Es gibt hier | |
keinen Produktivitätsstau oder -schub des einen auf Kosten des anderen. | |
Jedenfalls keinen aus den Briefen und Dokumenten ersichtlichen. Es war wohl | |
wirklich die glückliche Liebe, wie Hubert Fichte sie in dem Roman „Eine | |
glückliche Liebe“ verewigt hat. | |
„Eine glückliche Liebe“, der Auftaktband von Fichtes langer Reihe zur | |
Untersuchung der „Geschichte der Empfindlichkeit“, ist sein leichtester | |
Roman und mit Blick auf die Briefe wahrscheinlich auch der Schlüssel zu | |
diesem mit einem Bein – oder was auch immer – in der Zeit ihres | |
Zusammenlebens in einem direkten Verhältnis zur Unendlichkeit stehenden | |
ungleichen Paar. Was einem auch das traurige Ende, denn natürlich muss auch | |
Fichte sterben, und den letzten Brief erträglich macht, in dem er Mau die | |
Rechte an der „Geschichte der Empfindlichkeit“ überträgt. | |
1 Aug 2016 | |
## AUTOREN | |
Cord Riechelmann | |
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