| # taz.de -- Kirchliche Telefonseelsorge: „Das ganze Programm des Lebens“ | |
| > Seit 60 Jahren begleiten kirchliche Ehrenamtliche Verzweifelte durch | |
| > Lebenskrisen. Zeit für die taz, selbst mal dort anzurufen. | |
| Bild: Gegen Ängste, Einsamkeit und Sorgen – einfach mal die Seelsorge anrufen | |
| Seelsorgerin: Kirchliche Telefonseelsorge, guten Morgen. | |
| taz: Ähm, hallo, mit wem spreche ich? | |
| Sie sprechen mit der kirchlichen Telefonseelsorge. | |
| Äh, das weiß ich. Ich fände es aber schön zu wissen, wie Sie heißen. | |
| Wir von der Telefonseelsorge bleiben anonym. Wir können uns aber gern ohne | |
| Namen kennenlernen. Sie klingen jung. | |
| Vergleichsweise, ich bin 33. | |
| Dann sind Sie ja noch jung. | |
| Hören Sie das, weil Sie schon lange als Seelsorgerin arbeiten? | |
| Nein, so lange mache ich das nicht. Na ja, immerhin fast zehn Jahre. Vor | |
| meiner Pensionierung habe ich in vergleichbaren Bereichen gearbeitet. | |
| Und zwar? | |
| Wollen Sie das wirklich alles wissen? Ich war schon immer im kirchlichen | |
| Umfeld tätig, in der Krankenpflege, in der Caritas und der Diakonie. Wenn | |
| auch nicht in Berlin. | |
| Sie sind als Pensionärin alleine nach Berlin gezogen? | |
| (Die Dame am Telefon lacht) Das haben meine Kinder auch nicht verstanden. | |
| Mein Leben besteht aber nicht darin, die Beine hochzulegen. Ich habe noch | |
| ganz viel Energie. Und ich wollte immer nach Berlin. | |
| Meine Mutter würde das nie im Leben machen. Woher nehmen Sie den Mut, | |
| Familie und Freunde zurückzulassen? | |
| Mein Vater hat zu meiner Mutter immer gesagt: Wir gehen nach Berlin. Das | |
| war im Krieg. Bei mir ist der Wunsch, nach Berlin zu gehen, seit der | |
| Kindheit tief in mir drinnen. Diesen Schritt musste ich einfach noch mal | |
| gehen. Nach der Pension war ich frei für diesen Schritt. | |
| Und warum Telefonseelsorge? | |
| Ich sehe das als meine Aufgabe. Der liebe Gott hat mir nicht Gesundheit | |
| geschenkt, damit ich zu Hause in der Hängematte liege und lese. Das mache | |
| ich zwar auch gern, aber er will auch, dass ich Menschen helfe, die es | |
| schwer haben im Leben und denen es guttut, wenn jemand sagt: Ich geh ein | |
| Stück mit dir. | |
| Geht das denn, anonym am Telefon? | |
| Viele, die hier anrufen, suchen Zuwendung. Wir hören das ganze Programm | |
| des Lebens: Wut, Verzweiflung, Liebe, Freundschaft, Brüche, | |
| Arbeitslosigkeit. Ihnen tut gut, dass ihnen jemand einfach zuhört, sie | |
| ernst nimmt, einfach als Mensch da ist. | |
| Aber Sie wissen nie, was aus den Personen wird. Oder haben Sie auch | |
| Stammkunden, mit denen sie in regelmäßigen Abständen telefonieren? | |
| Es gibt Personen, die wiederholt anrufen, weil es ihnen Halt und Lebensmut | |
| gibt. Für sie gehört der Anruf bei uns zum täglichen Ablauf wie Frühstücken | |
| und Schlafengehen. Die haben keine großen Probleme, aber sie leiden an | |
| Einsamkeit. Dann brauchen sie eine menschliche Stimme, einen Zuhörer, der | |
| ihnen Mut zuspricht oder sie auch mal zum Lachen bringt. Dann geht es denen | |
| wieder besser. | |
| Erzählen Sie auch mal einen Witz? | |
| Nein, ich persönlich nicht. Aber es kann schon mal zu heiteren Momenten | |
| kommen. | |
| Wann rufen einsame Seelen denn an? Nachts um drei? | |
| Ganz unterschiedlich. Wir sind an allen sieben Tagen rund um die Uhr | |
| erreichbar. | |
| Warum nehmen die Betroffenen denn keine professionelle Hilfe in Anspruch? | |
| Weil wir anonym und sofort verfügbar sind. Ärzte und Therapeuten sind | |
| nicht immer unmittelbar erreichbar. Ängste, Sorgen, Einsamkeit können aber | |
| nicht auf Termine warten. Mitmenschen in schwierigen Lebenssituationen | |
| haben es verdient, dann Hilfe zu bekommen, wenn sie sie brauchen. Das | |
| unterstützen auch viele Kliniken. Sie empfehlen bestimmten Patienten | |
| auch, sich im Notfall an die Seelsorge zu wenden. | |
| Hören Sie dann: Mein Arzt hat Sie empfohlen …? | |
| An den Wochenenden und an Feiertagen kommt so etwas schon einmal vor. Da | |
| suchen Patienten, die vorübergehend zu Hause sind, Orientierung und Halt. | |
| Wenn jemand nicht mehr weiterweiß, dann ruft er bei uns an. | |
| Haben Sie schon Leben gerettet? | |
| Ja, ich vermute, dass das schon häufiger der Fall war. Ich höre immer gut | |
| zu und versuche, irgendwo einen Funken Hoffnung zu wecken, nachzuhaken, ins | |
| Gespräch zu kommen. Bei solchen Anrufern endet das Gespräch oft damit, dass | |
| sie sagen: Das hat mir gutgetan. Ich habe einen neuen Ansatz für eine neue | |
| Lebensperspektive gefunden. Wenn das glückt, ist das natürlich besonders | |
| schön. | |
| Und wenn nicht? | |
| Wir wissen nicht, was passiert, wenn der Anrufer das Gespräch beendet hat. | |
| In Situationen, bei denen ein Suizid nach Beendigung des Gesprächs möglich | |
| bleibt, versuche ich mir und dem Anrufer mit einem Gebet zu helfen. | |
| So oder so bürden Sie sich viel auf. | |
| Ich gebe zu, dass ich an meine Grenzen komme. Das tut oft so weh, was die | |
| Leute einem erzählen. Vor Ihnen hab ich mit einer älteren Person | |
| gesprochen, die sich immer noch nicht von der sozialistischen Vergangenheit | |
| erholen kann, von dem Misstrauen, der ständigen Beobachtung. Und das 25 | |
| Jahre später! Das fällt mir bei vielen Gesprächen auf, dass Menschen aus | |
| dem Osten nicht verkraftet haben, was sie damals erdulden mussten. Manche | |
| konnten in den Stasi-Akten nachlesen, wie sie von Freunden bespitzelt | |
| worden sind. Das schmerzt und haut das Vertrauen in die Menschheit weg. | |
| Was sagen Sie so einer Person? | |
| Ich bin mit dem christlichen Glauben groß geworden. Ich glaub an einen Gott | |
| und ich kann nicht tiefer fallen als in Gottes Hand. Ich bete für die | |
| Menschen, die sich mir anvertrauen. Und ich zünde auch Kerzen an. Das sage | |
| ich den Anrufern auch. | |
| Und dann sagt eine Dame, die in der DDR sozialisiert wurde? | |
| Ich habe noch nie erlebt, dass das jemand abgelehnt hat. Manchmal sind wir | |
| mit unseren Worten einfach am Ende. Aber es gibt Gesten, die sind | |
| unersetzbar. | |
| Wo weinen Sie sich aus, wenn Sie mal verzweifeln? | |
| Dann nehme ich meinen Handschmeichler, den ich auch jetzt bei mir in der | |
| Arbeit habe, und dann gilt auch für mich: keine Worte mehr. Und einfach | |
| loslassen. Das ist meine Kraftquelle. | |
| Sie reden mit niemanden darüber? | |
| Wenn ich in die Kirche gehe, nehme ich das alles mit und lade es bei Gott | |
| ab. Das hört sich vielleicht ein bisschen dick an, aber es ist wirklich so. | |
| Macht Ihnen diese Arbeit auch Freude? | |
| Für mich gibt es nichts Schöneres im Leben. | |
| Wie bitte? | |
| Ja, ich weiß, das hört sich komisch an. Aber ich wüsste nicht, was ich die | |
| letzten zehn Jahren hätte besser machen können. Für mich ist das ein | |
| erfülltes Leben, zu spüren, dass ich immer mit Menschen im Kontakt bin. Ich | |
| spreche auch alte Leute auf der Straße an. Bei mir um die Ecke wohnt eine | |
| alte Frau. Immer, wenn ich sie sehe, nehme ich mir eine Viertelstunde Zeit. | |
| Sie erzählt ja nichts Neues. Aber sie hat ein Bedürfnis, mit jemandem zu | |
| reden. | |
| Hören wir zu wenig zu? | |
| Ich glaube, ja. Alle, die bei mir anrufen, klagen, dass die Menschen keine | |
| Zeit mehr haben oder sagen: Das hast du mir schon zehnmal erzählt, das will | |
| ich nicht mehr hören. Viele Leute sind heute so mit sich beschäftigt. Wenn | |
| dann die Nachbarin, der Freund oder die Eltern auch noch Probleme bringen … | |
| Die Leute können das gar nicht mehr mittragen. Es braucht halt Menschen, | |
| die sagen: Ich versuch’s mal. | |
| Ein schönes Schlusswort … | |
| Moment. Warum haben Sie eigentlich angerufen? | |
| Ah ja. Wissen Sie, ein Kollege von mir ist ziemlich durch. Die | |
| Nachrichtenlage, Nizza, Türkei, Würzburg, verstehen Sie … | |
| Das ist nett gemeint von Ihnen. Bleiben Sie an seiner Seite. Anrufen muss | |
| Ihr Kollege aber schon selber. Wir sind ja rund um die Uhr erreichbar. | |
| Okay. | |
| Was mir noch einfällt: Wir beraten auch per Mail. Vielleicht fällt das | |
| Ihrem Kollegen ja leichter, mit uns zu chatten. | |
| Ich werde es ihm ausrichten. Vielen Dank! | |
| 24 Jul 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Ralf Pauli | |
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