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# taz.de -- „Pioniere des Comic“ in Frankfurt: Wee Willie Winkie und Naught…
> Erstmals stellt die Schirn-Kunsthalle die „Neunte Kunst“ aus. Das enge
> Verhältnis von Zeitungscomics und moderner Kunst wird sichtbar.
Bild: „Eine andere Avantgarde“ – keine kühne Behauptung für die Comic-A…
Schweißtropfen spritzen von Papa Perkins Gesicht. Winzig klein marschiert
er durch die städtische Menge; den Männern und Frauen um ihn herum reicht
er gerade bis zum Schienbein. An seinem Ziel angekommen, erfasst ihn nackte
Panik. Ein gigantischer Bohrer beginnt zu rotieren; wie ein böser Gott
beugt der Zahnarzt sich über seinen Patienten. Dann aber ist’s überstanden:
Staunend betrachtet Perkins in einem Handspiegel sein makelloses Gebiss.
Auf dem Heimweg zeugt sein Schritt von höchster Selbstzufriedenheit – und
nun überragt er alle Passanten ums Dreifache.
Auf dieser Sonntagsseite, die Cliff Sterrett (1883–1964) im Jahr 1928 für
seine Serie „Polly and Her Pals“ zeichnete, wird das Geschehen aus zwei
verschiedenen Perspektiven wiedergegeben: Wir sehen Papa Perkins und teilen
gleichzeitig seinen durch extreme Emotionen völlig verzerrten Blick auf die
Wirklichkeit. Subjektives und Objektives sind eins geworden. Andere Seiten
wirken, als habe Sterrett die amerikanische Mittelstandsfamilie, deren
Alltag er humoristisch schildert, auf das Set von „Das Cabinet des Dr.
Caligari“ versetzt: Perspektiven stürzen, Wände biegen sich, Zickzackformen
und Gittermuster suggerieren Unruhe.
All dies ist kein Zufall: Sterrett wusste sehr genau, was außerhalb der
Comic-Welt Aufregendes passierte. Seine Sommeraufenthalte verbrachte er in
einer Künstlerkolonie in Maine. Dort begegnete er unter anderen dem
umtriebigen Maler Walt Kuhn, der 1913 in New York eine legendäre
Ausstellung organisierte, in der zahlreiche Werke avantgardistischer
europäischer Künstler gezeigt wurden, darunter Marcel Duchamps „Nu,
descendant un escalier (no. 2)“.
Wenn die von Alexander Braun kuratierte Ausstellung „Pioniere des Comics“
den Untertitel „Eine andere Avantgarde“ trägt, ist dies also nur auf den
ersten Blick eine kühne Behauptung. Anhand von sechs amerikanischen
Zeichnern und deren Arbeiten, überwiegend aus der Zeit zwischen 1905 und
1940, wird hier das enge Verhältnis deutlich, dass der frühe,
ausschließlich in Zeitungen publizierte Comic zur Moderne in Kunst,
Literatur und Film unterhält.
Winsor McCay (1869–1934) wird von Braun im vorzüglichen Katalog zu Recht
als „erster Surrealist des 20. Jahrhunderts“ bezeichnet. Berühmt ist dieser
Künstler vor allem für „Little Nemo in Slumberland“. Grafisch weniger
opulent, aber ebenso meisterhaft ist die Serie „Dreams of the Rarebit
Fiend“, die er ab 1904 zeichnete. In dieser gibt es keine wiederkehrende
Hauptfigur; erzählt werden die Albträume ganz unterschiedlicher Menschen,
die am Ende jeweils erwachen. Mit seinem mitunter schwarzen Humor und
seiner Thematisierung vieler verschiedener Ängste richtete sich „Rarebit
Fiend“ dezidiert an ein erwachsenes Publikum. Ob McCay Freud kannte, ist
unklar. Seine künstlerische Darstellung der Traumarbeit ist jedenfalls
überaus präzise und nimmt entsprechende surrealistische Versuche um
mindestens zwei Jahrzehnte vorweg.
## Der kunsthistorische Wert
Wie die Serien Sterretts und McCays sind „Krazy Kat“ von George Herriman
(1880–1944), „The Kind-er-Kids“ und „Wee Willie Winkie“ von Lyonel
Feininger (1871–1956) sowie „Gasoline Alley“ von Frank King (1883–1969)
anerkannte Klassiker. Dass die Ausstellung ihnen Platz gewährt, versteht
sich von selbst. Zu entdecken ist aber auch eine hochkarätige Serie, die
selbst den meisten Kennern unbekannt sein dürfte: Von „Naughty Pete“ hat
Charles Forbell (1885–1946) zwischen August und Dezember 1913 gerade 18
großartige Sonntagsseiten veröffentlicht.
Diese Streiche eines kleinen Jungen, die stets in einem Unfall oder in
Verwüstung enden, unterscheiden sich durch ihren
minimalistisch-formalistischen Zeichenstil, der teilweise auf Piet Mondrian
vorausweist, radikal von allen anderen zeitgenössischen Arbeiten. „Naughty
Pete“ war kein Erfolg, und Forbell hat danach nie wieder Comics gemacht –
welch ein Verlust!
In (für eine Comic-Ausstellung) ungewöhnlichem Ausmaß sind in der Schirn
mehr Druckversionen als Originale zu sehen. Was die Zeichner mit eigener
Hand angefertigt hatten, wurde früher in den Redaktionen oft einfach
weggeworfen; es galt als für den Tag produzierte Unterhaltungsware. Von
„Naughty Pete“ etwa ist kein einziges Original erhalten.
Allerdings sind inzwischen sogar die großformatigen, herrlich in Farbe
gedruckten Sonntagsseiten ein rares, hoch gehandeltes Gut, das zudem,
aufgrund des säurehaltigen Papiers, vom Verfall bedroht ist. Hier wird es
in Zukunft größerer konservatorischer Anstrengungen bedürfen, als sie
Privatsammler (die sich bislang überwiegend um diesen Teil des Comic-Erbes
gekümmert haben) leisten können.
„Pioniere des Comics“ ist die erste Ausstellung zur so genannte Neunten
Kunst, die sich die Schirn in den 30 Jahren ihres Bestehens leistet. In
seinem Vorwort zum Katalog springt Max Hollein, bis vor kurzem Direktor der
Kunsthalle, schwer in die Bresche: Der „künstlerische und kunsthistorische
Wert“ des Comics werde bislang sträflich unterschätzt; das Ziel seines
Hauses sei es daher, „diesen Missstand nachhaltig zu beheben“. Hoffentlich
sehen der neue Chef oder die neue Chefin das ähnlich – aus rund 120 Jahren
Comic-Geschichte gäbe es so einiges zu präsentieren.
1 Jul 2016
## AUTOREN
Christoph Haas
## TAGS
Comic
Kunst
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Sexismus
Comic
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