| # taz.de -- Debatte Brexit: Norwegen ist ein teures Vorbild | |
| > Auch wenn die britische „Leave“-Fraktion es nicht wahrhaben will: Statt | |
| > einer Flucht aus Europa, gibt es nur einen wenig glorreichen „Breturn“. | |
| Bild: Ein sehr kreativer Verfechter des Brexit aus Gibraltar | |
| Jeder Mord ist furchtbar und sinnlos. Dennoch wäre es besonders tragisch, | |
| wenn die Labourabgeordnete Jo Cox erschossen worden wäre, weil die | |
| Brexit-Debatte das politische Klima in Großbritannien vergiftet. Denn beim | |
| Brexit geht es – um nichts. Ein EU-Austritt hätte kaum Folgen, denn die | |
| Briten wären weiterhin an Europa gekettet. | |
| Die Brexit-Fans haben einen Lieblingsslogan, der von Ukip-Chef Nigel Farage | |
| stammt: „Gebt uns unseren Pass zurück!“ Schon dieser Spruch dokumentiert, | |
| dass viele Briten offenbar ernsthaft glauben, sie lebten auf einer Insel. | |
| Dies gilt zwar geografisch – nicht aber ökonomisch. Die „Leave“-Fraktion | |
| übersieht, dass England bereits seit 2.000 Jahren zu Europa gehört – | |
| seitdem die antiken Römer einmarschierten und einen Teil der Insel zur | |
| Provinz ihres Reichs machten. Die Römer sind zwar längst Geschichte, aber | |
| sie hinterließen ein Erbe, das Europa einzigartig macht: Der Kontinent ist | |
| ökonomisch extrem vernetzt, obwohl er politisch in eine erstaunliche | |
| Vielzahl von Nationalstaaten zersplittert ist. | |
| Die Brexit-Fans glauben, es gebe Europa nur, weil es durch die Europäische | |
| Union, vulgo „durch Brüssel“, zusammengezwungen würde. Dabei ist das | |
| Umgekehrte richtig: Die EU existiert, weil Europa eine Realität ist, die | |
| sich nicht ignorieren lässt. Die EU ist nur die jüngste Variante davon, wie | |
| die uralten Wirtschaftsverflechtungen organisiert werden. | |
| Heute übernimmt die EU, was lange die Rolle der City of London war. Als das | |
| britische Weltreich noch existierte, waren es die englischen Banken, die | |
| die europäische Wirtschaft zusammenhielten, indem sie die globalen | |
| Kapitalströme lenkten. Doch nach dem Ersten Weltkrieg stieg Großbritannien | |
| ökonomisch ab – was manche Engländer bis heute nicht verwinden können. Der | |
| Brexit soll den Phantomschmerz darüber lindern, dass Großbritannien keine | |
| Supermacht mehr ist, sondern nur noch ein normales Land in Europa, das sich | |
| mit 27 anderen EU-Staaten arrangieren muss. | |
| ## Gesetze ohne Mitsprache | |
| An den banalen Realitäten aber können alle Fluchtfantasien nichts ändern: | |
| Die EU ist der wichtigste Handelspartner der Briten. Etwa die Hälfte | |
| sämtlicher Im- und Exporte des Vereinigten Königreichs werden mit den | |
| Europäern abgewickelt, und auch der aufgeblähte Finanzsektor in London | |
| existiert ja nicht deshalb, weil die Engländer besonders geniale Banker | |
| wären. Stattdessen haben es die Briten zu einem Wettbewerbsvorteil | |
| ausgebaut, dass sie europäische Fluchtgelder in die Steueroasen schleusen. | |
| Wenn sich Großbritannien abschotten würde, wäre dieses zynische | |
| Geschäftsmodell obsolet. | |
| Da die Briten existenziell auf den gemeinsamen Binnenmarkt angewiesen sind, | |
| würde auf den Brexit sofort der „Breturn“ folgen: Die Briten müssten in d… | |
| EU zurückkehren. Nicht offiziell natürlich, aber faktisch. | |
| Die Blaupause dafür existiert bereits: Norwegen. Das Land ist kein | |
| EU-Mitglied, weil die Wähler das so wollten, es gehört stattdessen dem | |
| „Europäischen Wirtschaftsraum“ an, um einen „vertieften“ Freihandel mit | |
| Europa zu genießen. Das mag attraktiv klingen, ist es aber nicht: Damit der | |
| Binnenhandel funktioniert, müssen die Norweger fast alle EU-Gesetze | |
| übernehmen – freilich ohne dass sie ein Mitspracherecht in Brüssel hätten. | |
| Zudem ist der Deal auch noch teuer: Die Norweger müssen jährlich 388 | |
| Millionen Euro an die EU zahlen. Pro Kopf überweisen sie damit genauso viel | |
| nach Brüssel wie die Briten, obwohl sie offiziell unabhängig sind. | |
| Der Brexit wäre also eine ökonomische Nullnummer – würde aber trotzdem | |
| Schäden in Großbritannien verursachen. Denn es gibt einen Faktor, den die | |
| „Leave“-Fraktion nicht bedenkt: die Zeit. Die Verhandlungen über einen | |
| Austritt dürften ziemlich lange dauern, und genauso lange wären alle | |
| Investoren verunsichert. Angst kostet Geld – nicht nur an den Börsen. Aber | |
| vielleicht erinnern sich die Freunde des Inseldaseins ja dann doch noch | |
| rechtzeitig daran, dass sie seit 2.000 Jahren zu Europa gehören. | |
| 18 Jun 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Ulrike Herrmann | |
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