| # taz.de -- Fluchtdebatte auf dem Katholikentag: Frag den Flüchtling | |
| > Enkel von Vertriebenen treffen Geflüchtete von heute. Sie sollen wissen, | |
| > was sie erlitten und erlebt haben. Doch es gibt da ein Problem. | |
| Bild: Nachtgebet beim Leipziger Katholikentag: Das Thema Flüchtlinge ist allge… | |
| Leipzig taz | Erbarmen mit David Tindano! Der 28-Jährige leidet. Aber er | |
| ist zu höflich, um es sich anmerken zu lassen. Der sportliche | |
| Westafrikaner, geboren in Burkina Faso und aufgewachsen in der | |
| Elfenbeinküste, sitzt in einem Saal der Leipziger Oper. Tindano, legere | |
| schwarze Kleidung, Kurzhaar-Rastazöpfe, ist umringt von sehr weißen, sehr | |
| wohlwollenden Menschen. | |
| Es sind Christinnen und Christen, die der 100. Deutsche Katholikentag nach | |
| Leipzig in die ostdeutsche Diaspora gespült hat. Und sie wollen es ganz | |
| genau und sehr ernsthaft von ihrem afrikanischen Gesprächspartner wissen: | |
| Wie war seine Flucht nach Deutschland? Warum ist er gekommen? Was hat er in | |
| der Elfenbeinküste erlebt, was hier? „Menschen sehen, Geschichten hören, | |
| Verständnis schaffen. Flüchtlinge erzählen ihre Geschichte“, heißt dieser | |
| Programmpunkt des Katholikentags, der neben den Evangelischen Kirchentagen | |
| das größte regelmäßig stattfindende Diskussionsforum der Zivilgesellschaft | |
| ist. | |
| Tindano, der nun seit rund zwei Jahren in Halle an der Saale lebt, will | |
| auch zu dieser Diskussion beitragen. Aber wenn die elf lieben katholischen | |
| Gläubigen an diesem 50er-Jahre-Tisch in der Leipziger Oper eben nur rund 15 | |
| Minuten Zeit haben, den jungen Westafrikaner auszufragen: Wie soll da ein | |
| wirkliches Gespräch zustande kommen, wie soll er all das schildern, was er | |
| erlebt und erlitten hat? Die Angst, die Hoffnung, die Gefahr? | |
| Tindanos Worte bleiben dürr, als versage er sich selbst zu viele Gefühle. | |
| Mehrmals muss er erzählen, dass er vor dem Krieg in der Elfenbeinküste | |
| geflohen und dass es über Mali, Algerien, Marokko und Spanien gegangen sei. | |
| Etwa ein Jahr dauerte das, und es war „schwierig: viel Polizei“. Nur einmal | |
| deutet Tindano Gefühl kurz an: „Ich habe meinen Vater nie kennengelernt“, | |
| sagt er trocken, „meine Mutter ist gestorben, ich bin jetzt ganz allein.“ | |
| Geschwister hat er keine. | |
| ## Alles furchtbar gut gemeint | |
| Als wolle er die Stimmung heben, betont er mehrmals: „Halle gefällt mir | |
| sehr gut.“ „Deutschland gefällt mir sehr gut.“ Ja, er sei Christ, und ja, | |
| er gehe in die Kirche – „jeden Sonntag“. Je länger das Gespräch dauert, | |
| umso mehr spielt er nervös mit seiner Plastikflasche herum. In seiner Not | |
| wehrt sich Tindano schließlich leise und höflich dagegen, in | |
| Speed-Dating-Manier noch zu einem dritten Tisch mit fragenden Katholiken | |
| gehen zu müssen – dabei war alles so gut gemeint. | |
| Das ist oft das Problem bei Katholikentagen und Evangelischen Kirchentagen, | |
| die sich jährlich in immer anderen Städten Deutschlands abwechseln: Es ist | |
| alles so furchtbar gut gemeint, fast alles sehr ernst und sehr deutsch – | |
| aber leicht winkt in der Fülle der meist 1.000 oder mehr Veranstaltungen | |
| auch die Beliebigkeit. Die Gläubigen wollen in Leipzig ordentlich beten, | |
| viel singen, etwas feiern, alles besprechen und sich gegenseitig für ihren | |
| Alltag in den Gemeinden bestärken. Aber was bewegt die 30.000 Katholikinnen | |
| und Katholiken, die nach Leipzig gekommen sind? | |
| In diesem Jahr ist es die Flüchtlingsfrage – und deshalb will auch Tindano | |
| von seinem Schicksal erzählen. Solidarität mit den Geflüchteten, das | |
| Bemühen um ihre Integration, die Empörung über die Hetzerei von AfD und | |
| Pegida gegen sie – das ist der Dreiklang, der in praktisch allen großen | |
| Veranstaltungen des Katholikentags überdeutlich zu hören ist: gleich auf | |
| der ersten Pressekonferenz des Katholikentags, auf der Eröffnungsfeier auf | |
| dem Markt von Leipzig, bei der der Papst – eine Premiere! – in | |
| Argentino-Deutsch eine Videobotschaft an die Gläubigen säuselt, oder bei | |
| den Auftritten des Bundespräsidenten beim Festakt aus Anlass des 100. | |
| Katholikentags. Das Thema Flucht und Flüchtlinge findet in Dutzenden | |
| Veranstaltungen statt. | |
| ## Die Säulen der Willkommenskultur | |
| Die katholischen und evangelischen Christen, ihre vielen, vielen Gemeinden | |
| und ihre riesigen Sozialorganisationen der Caritas und Diakonie sind eine | |
| tragende Säule dessen, was man im vergangenen Jahr noch ganz unironisch | |
| „Willkommenskultur“ genannt hat. Der Katholikentag kommt genau zur rechten | |
| Zeit, um zu diskutieren, was in den letzten zwölf Monaten an Einwanderung | |
| nach Deutschland passiert, was geglückt, was missraten ist. | |
| Die „Junge Aktion“ der christlichen „Ackermann Gemeinde“ hat da den | |
| vielleicht kühnsten Gedanken gewagt: Denn die „Ackermann Gemeinde“ ist ein | |
| gleich nach dem Zweiten Weltkrieg gegründeter Verband von Vertriebenen aus | |
| der Tschechoslowakei. Der Jugendverband hat Tindano und andere Flüchtlinge | |
| eingeladen, über ihr Schicksal zu sprechen. Die Enkel oder Urenkel der | |
| Vertriebenen von 1945 engagieren sich für die Flüchtlinge von 2016. | |
| Natascha Hergert, geboren 1991 in Hünfeld bei Fulda, hat diese Idee mit | |
| entwickelt. Ihr Engagement für Flüchtlinge, sagt sie, sei auch familiär | |
| bedingt. Denn fast alle ihre Urgroßeltern waren, grob gesagt, Vertriebene – | |
| aber solche, die aus diesem Schicksal der Flucht nicht revanchistische | |
| Gelüste entwickelten, sondern den christlichen Wunsch nach Verzeihung und | |
| Versöhnung. Natascha Hergert erzählt von ihrer Urgroßmutter, die sich mit | |
| der tschechischen Familie anfreundete, die nach 1945 ihr früheres Haus | |
| bewohnte. Diese grenzenlose Offenheit ist auch ein Grund, weshalb ihre | |
| Urenkelin Natascha Hergert mit der tschechischen Familie befreundet ist, | |
| unbedingt Tschechisch lernen wollte und nun in Prag lebt. Bald wird die | |
| ausgebildete Hebamme einen Tschechen heiraten. | |
| Abschätzige Sprüche gegenüber Fremden kann Hergert nicht akzeptieren; seien | |
| es Schimpfereien von Vertriebenen über Tschechen oder Vorurteile von jungen | |
| Tschechen über Flüchtlinge, die in unserem Nachbarland weit weniger | |
| willkommen sind als hierzulande. Das Flüchtlingsthema sei auf diesem | |
| Katholikentag so wichtig, sagt Hergert, weil „die Kirche und kirchlichen | |
| Organisationen da etwas zu erzählen und einzubringen haben“. Der Bibel | |
| zufolge war auch Jesus ein Flüchtling. | |
| Tindano schlendert nach seinem Erzählmarathon in der Oper durch die | |
| Fußgängerzone von Leipzig – überall sind Stände katholischer | |
| Organisationen. Bei dem des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, dem | |
| Ausrichter des Christentreffens, wird ihm ein Lebkuchenherz geschenkt, | |
| ebenso wie seiner Begleiterin Pauline Komarek. In Halle ist die 22-Jährige | |
| engagiert für Flüchtlinge. Komarek hat noch nie einen Gottesdienst erlebt | |
| und überlegt sich an diesem sonnigen Nachmittag laut, ob sie als Ungläubige | |
| wohl der Blitz vom Himmel träfe, wenn sie mal einen besuchte. Sie schenkt | |
| ihr Lebkuchenherz Tindano, er schenkt ihr seines. | |
| 28 May 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Philipp Gessler | |
| ## TAGS | |
| Flüchtlinge | |
| Schwerpunkt Flucht | |
| Katholikentag | |
| Kirchentag 2025 | |
| Idomeni | |
| Calais | |
| Schwerpunkt Flucht | |
| Schwerpunkt Flucht | |
| Griechenland | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Katholikentag in Leipzig: Mauer aus Pragmatismus | |
| Wo endet Gastfreundschaft? Innenminister de Maizière diskutiert mit | |
| Menschenrechtsexperten. Der CDU-Mann wird einmal ein bisschen weich. | |
| Kolumne Liebeserklärung: Idomeni, wunderschöner Schandfleck | |
| Das Flüchtlingscamp an der griechisch-mazedonischen Grenze ist Geschichte. | |
| Das europäische Versagen dauert an – anderswo. | |
| Flüchtlingslager in Calais: Gewaltausbruch im „Dschungel“ | |
| Während der Essensausgabe kommt es in dem Camp zu Auseinandersetzungen. | |
| Einige Personen erleiden Messer- und Schussverletzungen. | |
| Flüchtlingslager Idomeni: Die Räumung ist beendet | |
| Die Polizei spricht von einer gewaltfreien Aktion. Das Lager scheint leer | |
| zu sein. Viele Flüchtlinge sind vermutlich in der Umgebung untergetaucht. | |
| Flüchtlingsboot kentert vor Libyen: Zahlreiche Tote befürchtet | |
| Erneut sinkt ein Flüchtlingsschiff im Mittelmeer. Die Organisation Seawatch | |
| spricht von der „womöglich schlimmsten Tragödie“ in dem Gewässer. | |
| Flüchtlinge in Griechenland: Kochen lernen bei Kamran | |
| Im Athener Stadtteil Exarchia leben Flüchtlinge und Hausbesetzer zusammen. | |
| Die Behörden kümmern sich nicht mehr um die Geflüchteten. |