# taz.de -- Machtkampf in ukrainischer Stadt: Odessas Überlebenswille | |
> In Odessa tobt ein Machtkampf zwischen dem Bürgermeister und dem | |
> Gouverneur. Viele Einwohner sind nur Zuschauer. | |
Bild: Odessa, 3. Mai 2016 – Gedenken am zweiten Jahrestag des Brandanschlags … | |
ODESSA taz | Stas Dombrowski passt gut in den Stadtgarten von Odessa. Der | |
kleine Park im Zentrum ist seit jeher Treffpunkt von Künstlern und | |
Überlebenskünstlern. Der Regisseur, Schriftsteller und Blogger sitzt vor | |
dem Café Franzol und steckt sich eine Zigarette an. „Das einzige Laster, | |
das ich mir noch erlaube“, flachst Dombrowski. „Kein Alkohol, kein Opium, | |
kein Heroin – nichts, nur noch Zigaretten.“ In Odessa, der Kulturhauptstadt | |
der Ukraine, gehört der 37-Jährige zu den schillerndsten Künstlern. | |
„Direkt hier an der Deribassowskajastraße habe ich am 2. Mai 2014 gesehen, | |
wie die Gewalt begonnen hat.“ Es war der Tag, an dem hier auf der Straße | |
und anschließend bei einem Brand im Gewerkschaftshaus 48 Menschen ums Leben | |
kamen. „Ich habe die Anfänge dieser Gewalt gesehen. Hier in der | |
Fußgängerzone hat die Polizei zuerst Gewalt angewandt.“ | |
Die Atmosphäre am 2. Mai 2014 sei enorm aufgeladen gewesen. „Ich habe | |
gemerkt, ich kann hier zum Tier werden. Ich kann auch töten.“ Deswegen ist | |
Dombrowski sofort nach Hause und hat sich selbst fürsorglich in der Wohnung | |
eingesperrt. „Nur ja nicht mitmachen bei dieser Gewalt, habe ich mir damals | |
gesagt.“ | |
Dombrowski hat viel Gewalt erlebt in seinem Leben und auch selbst Gewalt | |
ausgeübt. Wegen Beschaffungskriminalität saß er insgesamt elf Jahre im | |
Knast. An seinem Kampf gegen die Drogen, von denen er vor vier Jahren über | |
die „Anonymen Drogensüchtigen“ losgekommen ist, hat er über die sozialen | |
Medien die ganze Stadt teilhaben lassen. Sein Wort hat Gewicht. Dombrowski | |
gilt als authentisch. Wer so ehrlich über seine eigenen Probleme schreibt, | |
dem kauft man auch andere Ansichten ab. | |
## Die Fronten verlaufen anders | |
Den gewaltsamen Sturz des Präsidenten Janukowitsch vor zwei Jahren hat | |
Dombrowski genauso unterstützt wie anschließend die neue proeuropäische | |
Regierung. Inzwischen jedoch verlaufen in Odessa die Fronten anders, | |
erzählt Dombrowski. Gebannt starren die Odessiten auf den Konflikt zwischen | |
Bürgermeister Gennadi Truchanow und Gouverneur Micheil Saakaschwili. Der | |
ehemalige georgische Präsident wurde vor einem Jahr vom ukrainischen | |
Präsidenten Petro Poroschenko eingesetzt. Der Georgier sollte so | |
erfolgreich wie in seinem Heimatland gegen die Korruption vorgehen. Die | |
Hoffnungen, die sich mit 48 Jahre alten Saakaschwili verbanden, waren groß, | |
erzählt Dombrowski. | |
Doch Saakaschwili hat bis heute nichts erreicht, und das liegt vor allem an | |
Gennadi Truchanow. Der Bürgermeister, ein Odessit mit exzellenten | |
Beziehungen zur Unterwelt, ebenfalls seit Mai 2015 im Amt, hat Medien, | |
Stadtrat und die Geschäftswelt der Stadt fest im Griff. Truchanow, 51 Jahre | |
alt, durchtrainiert, im Hobby Thaiboxer, war mehrere Jahre Chef des | |
Werkschutzes in der Filiale des russischen Ölkonzerns Lukoil in Odessa. | |
„Die Mannschaft von Saakaschwili hat wirklich den festen Willen, gegen die | |
Korruption in unserer Stadt anzugehen“, sagt Dombrowski und nippt an seinem | |
Glas. „Aber die haben ganz schöne Fehler gemacht.“ So habe Saakaschwili | |
kurz nach seinem Amtsantritt die herausragendsten Leute aus dem kulturellen | |
Leben der Stadt zu einem Treffen eingeladen. | |
## Saakaschwilis große Fehler | |
Man solle Ideen einbringen, was man verbessern könne, hatte es in der | |
Einladung geheißen. „Und kaum eine dieser Ideen ist dann umgesetzt worden“, | |
klagt Dombrowski. Und gleichzeitig habe Saakaschwili noch einen zweiten, | |
größeren Fehler begangen. Er habe niemanden aus der Welt des Kapitals | |
eingeladen. So ein Fehler dürfe in einer Stadt wie Odessa nicht | |
passieren.Dombrowski blickt zu den Touristen hinüber, die durch den | |
Stadtgarten ziehen und Denkmäler knipsen. | |
Besonders beliebt ist ein mächtiger bronzener Stuhl. Er zeugt davon, dass | |
Odessa einen besondere Seele hat. Das überdimensionale Möbelstück erinnert | |
an einen Schelmenroman aus dem nachrevolutionären Russland, in dem es um | |
Brillanten geht, die in einem Stuhl eingenäht wurden, um ein Gaunerduo und | |
um das Überleben in chaotischer Zeit – eigentlich ganz so wie heute. Und es | |
ist auch eine Hommage an Odessa, die Heimatstadt der beiden Autoren – die | |
Stadt, die bei aller Trübsal, bei aller Gewalt, auch immer etwas Leichtes, | |
Optimistisches, aber auch Doppelbödiges ausstrahlt. | |
Stas Dombrowski, selbst Odessit, versucht diesen Widerspruch zu erklären: | |
„Eine wirklich klare Linie haben wir Odessiten nie. Wir wollen uns immer | |
noch ein Hintertürchen offen halten.“ Er lacht. Und Hintertürchen gibt es | |
wirklich genug. Denn Odessa hat tatsächlich einen doppelten Boden. Kurz | |
nach der Gründung im Jahr 1794 begann man, direkt unter der Stadt Sandstein | |
abzubauen. Schnell bildete sich mit den Stollen ein weit verzweigtes | |
unterirdisches Netz. Mit der Zeit hatte fast jedes Haus irgendwo einen | |
Zugang zu diesem Labyrinth. Und dort unten, in den Katakomben, galten die | |
Regeln und Gesetze der Oberwelt nicht mehr. | |
## Das Labyrinth als Lebensprinzip | |
Hier suchten alle die Menschen Zuflucht, die es oben nicht mehr aushielten | |
oder sich verstecken mussten – religiöse Minderheiten, politisch Verfolgte, | |
Freimaurer, Verbrecher, Seeräuber. Nur wenige Einheimische finden sich | |
heute in diesem Labyrinth zurecht. Wer sich dort verirrt, ist verloren. | |
Legendär sind auch die Partisanen, die sich während der deutschen Besatzung | |
im Zweiten Weltkrieg dort verstecken konnten. Wer eine Erklärung für den | |
Überlebenswillen Odessas sucht, die Katakomben könnten sie bieten. | |
Doch Odessa war auch stets Schmelztiegel unterschiedlicher Kulturen. | |
Franzosen, Italiener, Spanier, Deutsche, Juden, Bulgaren haben die Stadt | |
geprägt. Aufgeklärte Geister sind in die Stadt gekommen und Abenteurer. Sie | |
war schon multikulturell, als es dieses Wort noch gar nicht gab. Sie war | |
von Anfang an das, was die Ukraine jetzt mit aller Macht werden will – | |
europäisch. | |
„Ich bin zu jeweils einem Viertel Grieche, Jude, Russe und Pole“, sagt | |
Alexei Botwinow stolz, „doch ich fühle mich als Ukrainer.“ Dann bestellt er | |
sich im Franzol, wo er hinzugestoßen ist, Blini, eine Portion russischer | |
Pfannkuchen. Botwinow ist Pianist mit Wohnsitzen in Odessa und Zürich. Wenn | |
er von den internationalen Konzerten spricht, die in Odessa stattfinden, | |
leuchten seine Augen. | |
## Preise von Moskau bis Düsseldorf | |
Botwinow hat bereits viele internationale Preise gewonnen. Schon in den | |
achtziger Jahren hat der heute 52-Jährige in Moskau den | |
Rachmaninow-Wettbewerb gewonnen, in Leipzig den Bach-Wettbewerb und in | |
Düsseldorf den Clara-Schumann-Wettbewerb. Inzwischen ist Botwinow in über | |
36 Ländern aufgetreten und gilt als einer der führenden | |
Rachmaninow-Interpreten. | |
Doch jetzt will auch Botwinow erst einmal seine Enttäuschung über den | |
Hoffnungsträger Saakaschwili loswerden. „Viele haben an Saakaschwili | |
geglaubt und sind nun enttäuscht, dass er nicht die Ergebnisse gebracht | |
hat, die man vom ihm erwartet hat“, sagt Botwinow. | |
Eines aber hält er dem ehemaligen georgischen Präsidenten zugute. | |
Saakaschwili halte das Thema Korruption in der Öffentlichkeit und wenn er | |
nicht wäre, wäre das Thema sehr schnell wieder aus dem Blickfeld geraten. | |
Saakaschwilis Problem sei es, dass er seine Beliebtheit politisch nicht | |
umsetzen könne. Stas Dombrowski nickt. Saakaschwili habe ein gutes Gefühl | |
für das Volk. Er verstehe es immer, genau das zu sagen, was das Volk hören | |
wolle – ein echter Populist. | |
## Ein Populist passt sich an | |
Wie schnell sich Micheil Saakaschwili gesellschaftlichen Stimmungen | |
anpassen kann, zeigen auch die Feierlichkeiten zum „Tag des Sieges“ in | |
Odessa, die am 8. und 9. Mai abgehalten wurden. Am 8. Mai versammeln sich | |
einige hundert Personen bei einer von den Behörden organisierten | |
Feierlichkeit am Denkmal für den unbekannten Matrosen. Dieses Gedenken wird | |
in ukrainischer Sprache abgehalten. | |
Einen Tag später, am 9. Mai, treffen sich an derselben Stelle mehrere | |
Tausend Menschen, die in russischer Sprache der sowjetischen Gefallenen | |
gedenken. Viele tragen am Revers das in der Ukraine verbotene | |
St.-Georgs-Bändchen, das in Russland obligatorisch ist. Eine Kapelle spielt | |
sowjetische Märsche und Sprechchöre skandierten „Gegen die Faschisten!“ �… | |
natürlich auch gegen die in Kiew. Plötzlich taucht Gouverneur Micheil | |
Saakaschwili auf, bahnt sich einen Weg durch die Menge und legte Blumen für | |
die Toten des Krieges ab. | |
Kampfparolen, Marschmusik – und mittendrin Gouverneur Saakaschwili. Das | |
alles scheint weit weg, wenn man einem anderen Künstler zuhört, Jaroslaw | |
Trofimow. „Odessa ist die einzige Stadt in der Ukraine, in der ein Umzug in | |
die Hauptstadt Kiew als sozialer Abstieg gilt“, erklärt er. | |
## „Odessa ist heute schon Kulturhauptstadt der Ukraine“ | |
Gemeinsam mit anderen Künstlern hat Trofimow mit der Plattform „Perron“ | |
eine Initiative geschaffen, die der Künstlerszene in der Stadt | |
Unterstützung bei Organisation und Management anbietet. „Odessa ist heute | |
schon Kulturhauptstadt der Ukraine“, ist Trofimow überzeugt. „Doch wir | |
wollen mehr, wir wollen Kulturhauptstadt Europas werden.“ Für ihn sei | |
Politik zweitrangig, so wie für die meisten Odessiten. | |
„Es waren doch nur tausend Leute, die hier auf den Maidan gegangen sind“, | |
bekräftigt er. „Und noch mal tausend auf den Antimaidan. Und die meisten | |
kamen von außerhalb der Stadt.“ Auch die eher geringen Zahlen beim | |
Weltkriegsgedenken geben Trofimow recht. In Odessa erobere sich die | |
Künstlerszene den öffentlichen Raum. Allein im letzten Jahr hat er mit | |
Freunden fünfzig Jazzkonzerte organisiert, erzählt Trofimow und strahlt. | |
Das ist Odessa. | |
12 May 2016 | |
## AUTOREN | |
Bernhard Clasen | |
## TAGS | |
Ukraine | |
Odessa | |
Michail Saakaschwili | |
Ukraine | |
Ukraine | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Ukraine | |
Ukraine | |
Ukraine-Krise | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Rückkehr in die Ukraine: Angst in Kiew vor Michail Saakaschwili | |
Der ausgebürgerte Ex-Gouverneur aus Odessa hält sich in Polen auf – auf der | |
Durchreise. Er will weiterreisen in die Ukraine. | |
Früherer Präsident Georgiens: Saakaschwili ist jetzt ein Papierloser | |
Der ukrainische Präsident entzieht dem Exgouverneur von Odessa und früheren | |
georgischen Staatschef die ukrainische Staatsbürgerschaft. | |
Kommentar Ukraine-Krisengipfel: Unbedingt an Minsk II festhalten | |
Das Außenministertreffen in Berlin brachte keine großen Erfolge. Die | |
Hoffnung auf die Einhaltung der Waffenruhe bleibt. | |
Jahrestag in der Ukraine: Totengedenken auf zweierlei Art | |
In Odessa wird mit zwei Zeremonien an die Opfer vom 2. Mai 2014 erinnert. | |
Sie starben bei Straßenschlachten oder im Gewerkschaftshaus. | |
Untersuchungsbericht zum Brand: Die Tragödie von Odessa | |
2014 starben beim Brand des Gewerkschaftshauses 42 Gegner der Kiewer | |
Regierung. Der Europarat beklagt schlampige Ermittlungen. | |
Neuer Gouverneur von Odessa: Pikante politische Provinzposse | |
Michail Saakaschwili, der abgehalfterte Expräsident Georgiens, regiert nun | |
die Hafenstadt Odessa am Schwarzen Meer. |