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# taz.de -- Yves Petry über Kannibalismus-Roman: „Sie wollen etwas voneinand…
> Für „In Paradisum“ ließ sich der flämische Schriftsteller von der
> Geschichte des Kannibalen von Rotenburg inspirieren. Es geht ihm nicht um
> die Sensation.
Bild: „Marino fühlt sich nach dem Tod seiner Mutter verloren und sucht jeman…
taz.am wochenende: Herr Petry, an den Fall des „Kannibalen von Rotenburg“
können sich viele erinnern. Im Jahr 2001 verabredete sich Armin Meiwes mit
einem Mann, um ihn zu töten und aufzuessen. Sie haben diese
Grundkonstellation für Ihren Roman „In Paradisum“ übernommen, aber die
Geschichte nach Belgien verlegt und fiktionalisiert. Was hat Sie an der
Rotenburger Geschichte so fasziniert?
Yves Petry: Vor allem die Freiwilligkeit des Opfers. Aber ich habe nicht
versucht, die Ausgangsgeschichte zu rekonstruieren. Damals kannten sich die
Männer nur einige Stunden lang; die Figuren in meinem Roman hingegen kennen
sich mehrere Monate. Es verbindet sie bei mir eine Art Liebesgeschichte,
ein großer Unterschied zum realen Fall.
Ich hatte nicht den Eindruck, dass Ihre Hauptfiguren Bruno und Marino
einander lieben. Ihre Unterhaltungen sind stockend, die sexuellen
Begegnungen abrupt und nervös. Worin besteht hier die Liebe?
Sie wollen etwas voneinander. Marino, der spätere Täter, fühlt sich nach
dem Tod seiner Mutter verloren und sucht jemanden, mit dem er wortlos und
fleischlich zugleich verbunden sein kann. Der ehemalige Literaturdozent
Bruno wiederum ist der vielen Worte satt. Als er bei Marino Stille findet,
reift in ihm sein Todesplan. Er vertraut sich Marino an, was eine
außerordentliche Intimität zwischen den beiden schafft. Das kann man Liebe
nennen.
Marino ist ein fast kindlicher Mann, der mit Erotik wenig anfangen kann.
Das betonen Sie im niederländischen Titel des Romans, oder?
Im Original heißt der Roman „De maagd Marino“, was so viel heißt wie „D…
Jungfrau Marino“. Marino hatte noch nie eine Beziehung und ist an Sex nicht
interessiert. In der Brüsseler Innenstadt führt er ein Computergeschäft.
Einige Monate nach dem Tod seiner Mutter kommt Bruno in seinen Laden und
will bei ihm Teile für seinen Computer kaufen. So lernen sie sich kennen.
Nach einer Weile nimmt der Mordplan Gestalt an. Hatten Sie selbst überhaupt
keine Angst vor diesem Stoff?
Nein, denn ich versuche einen tieferen Grund für das Handeln der beiden
aufzuspüren. Ich wollte auf keinen Fall auf der Ebene der Sensation stecken
bleiben oder gar moralisieren. Wenn mich ein Thema packt, ich eine
literarischen Möglichkeiten wittere, dann setze ich dem wie ein Jagdhund
hinterher.
Nach Brunos Tod isst Marino Stücke von dessen Fleisch. Dadurch gelangt
Brunos Geist in Marinos Körper, Bruno wird so zum Erzähler. Marino –
inzwischen verurteilt und inhaftiert – ist wieder der Ausführende: Er
schreibt Brunos inneren Monolog nieder.
Nach seinem mentalen Zusammenbruch als Dozent hat Bruno nichts mehr für
Literatur übrig. Zu Lebzeiten konnte er selbst kein Autor sein; dies
gelingt ihm erst nach seinem Tod. Als Schriftsteller hoffe ich, dass das
Wort über den Tod triumphiert. Jeder Autor träumt im Übrigen selber von
Unsterblichkeit. Also dass man auch nach dem Tod als Stimme im Körper eines
anderen – eines Lesers – weiterlebt.
Sie haben für diesen Roman einen der wichtigsten niederländischen
Literaturpreise erhalten. Wie haben denn die Leser in Flandern und in
Holland auf den Roman mit dem Kannibalismus-Thema reagiert?
Gespalten. Es gab Leute, die aus Gründen von Moral und gutem Geschmack mein
Buch rundweg ablehnten. Obwohl jeder durchschnittliche Thriller hundertmal
blutiger ist. Es gab auch Protest gegen die Verleihung des Libris
Literatuur Prijs an mich. Andere aber waren begeistert.
Ihr Buch gehört zu den ersten, die dieses Jahr im Rahmen des
niederländisch-flämischen Gastlandauftritts auf der Frankfurter Buchmesse
übersetzt wurden. Betrachten Sie sich als niederländischsprachigen oder
dezidiert als flämischen Autor?
Ich bin ein flämischer Autor; meine Figuren sind Belgier. Trotzdem
interessiert es mich nicht, die Geschichte Flanderns in meinen Büchern
aufzuarbeiten. Ich schreibe Geschichten, die – so bilde ich mir ein –
universell sind und die auch in anderen Ländern spielen könnten. Mir geht
es in der Literatur um Individuen, und ein Individuum ist mehr als seine
geografische oder historische Herkunft, ein freies Wesen. Literatur hat
meiner Ansicht nach die Aufgabe, aus Menschen freiere Wesen zu machen.
Die Niederlande und Flandern treten diesen Herbst auf der Frankfurter
Buchmesse gemeinsam als Gastland auf. Ist die niederländischsprachige
Literatur wirklich eins, wo sehen Sie Unterschiede zwischen flämischen und
niederländischen Büchern?
Das kann man schwer so allgemein sagen. Jeder Autor betrachtet sich doch
als etwas Besonderes und nicht als Repräsentant einer nationalen Stilistik.
Trotzdem schreiben Niederländer tendenziell nüchterner als Flamen. Sie
schreiben sehr gute Bücher – keine Frage! Aber sie sind auch sehr
professionell und achten darauf, dass sich ihre Bücher gut verkaufen. Über
Kannibalismus etwa – also einen Stoff, der das Publikum ein wenig
abschreckt – hätten sie sicherlich keinen Roman geschrieben. Flämische
Autoren trauen sich inhaltlich und stilistisch mehr. Sie versuchen, nicht
nur gute, sondern auch neuartige Bücher zu schreiben.
Trotzdem schreiben Sie auch oder vor allem für ein holländisches Publikum?
Ja, denn es gibt nur etwa sechs Millionen Flamen, aber ungefähr siebzehn
Millionen Niederländer. Der Buchmarkt ist auf der anderen Seite der Grenze
also dreimal größer als bei uns. Außerdem haben viele flämische Autoren wie
ich niederländische Verleger. Meiner sitzt in Amsterdam. Die großen
Literaturpreise, die ich gewonnen habe, habe ich ebenfalls in den
Niederlanden bekommen.
Also wäre es undenkbar, dass Flandern zusammen mit Wallonien seine
Literatur präsentierte – in einem belgischen Verbund?
Mit den Niederländern teilen wir einfach Sprache und Buchmarkt. Die
Wallonen schreiben auf Französisch. Mit ihnen verbindet uns auf
literarischem Gebiet wenig, kaum Austausch und wechselseitig nur wenig
Übersetzungen.
Ihre Bücher wurden noch nicht ins Französische übersetzt?
Nein, noch nicht.
„In Paradisum“ ist nun Ihre erste Übersetzung ins Deutsche. Stellen Sie
sich manchmal vor, dass Armin Meiwes, dessen Geschichte den Anstoß dazu
gab, Ihren Roman liest und Ihnen womöglich einen Kommentar dazu schickt?
Vielleicht würde er sich von dem einen oder anderen Detail angesprochen
fühlen, sollte er mein Buch denn überhaupt lesen. Aber in den großen
Erzähllinien wird er sich kaum wiedererkennen können. Mein Roman ist
Fiktion.
5 May 2016
## AUTOREN
Katharina Borchardt
## TAGS
Kannibalismus
Buch
Flandern
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