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# taz.de -- Sexualpsychologie: Kannibale und Liebe
> Im März 2001 tötete ein Sadist aus Rotenburg einen Masochisten, um ihn zu
> verspeisen. Die Tat gilt jetzt als "wissenschaftlich aufbereitet" - drei
> Bücher erzählen davon.
Bild: "Knusper, knusper, knäuschen..." in Rotenburg. Auch in Literatur und Myt…
Auf dem rot umrandeten Porzellanteller sind kleine Fleischstücke
angerichtet. Die beiden Männer kosten davon. Zäh wie Leder, ungenießbar.
Was vor Armin Meiwes und Bernd Brandes am 9. März 2001 zwischen frischen
Tomatenscheiben auf den Tellern liegt, ist Brandes Penis. Gebraten und mit
Salz, Pfeffer und Knoblauch abgeschmeckt.
Christoph J. Ahlers kennt die Szene. Er hat das Video gesehen, auf dem der
Computertechniker Meiwes im März 2001 filmte, wie er den Berliner Ingenieur
Bernd Brandes tötete und anschließend verspeiste.
Ahlers ist wissenschaftlicher und klinischer Mitarbeiter des Instituts für
Sexualwissenschaft und Sexualmedizin am Universitätsklinikum Charité in
Berlin. Dessen Direktor, Klaus M. Beier, war Gutachter in den beiden
Prozessen gegen "den Kannibalen von Rotenburg". Im September 2007 hat er
gemeinsam mit Ahlers ein Buch herausgebracht: "Sexueller Kannibalismus -
eine sexualwissenschaftliche Analyse der Antropophagie".
Im Februar 2003 beauftragte die Staatsanwaltschaft Kassel Beier und seinen
Mitarbeiter damit, zu untersuchen, ob Meiwes schuldfähig ist, ob er wieder
einen Menschen schlachten würde und ob er eine Gefahr für die Allgemeinheit
darstellt. Die Sexualwissenschaftler wühlten sich durch die Akten, sahen
das Video und führten Gespräche mit Meiwes. Sie ließen ihn
sexualmedizinische Fragebögen ausfüllen und machten psychologische Tests,
sprachen mit Freunden und Verwandten der beiden Männer und besuchten das
alte Gutshaus, in dem Brandes starb.
So ist das Bild, das Ahlers heute von Meiwes zeichnen kann, wesentlich
detaillierter und reflektierter als das des "Menschenfressers", das während
der Prozesse durch die Medienlandschaft geisterte.
"Meiwes ist ein freundlicher, aufgeschlossener, intelligenter Mann", sagt
der 38-jährige Sexualpsychologe. Weder er noch Brandes hätten sich
sonderlich von den hunderttausenden Menschen unterschieden, die im Internet
nach Bekanntschaften und sexuelle Kontakte suchen. Anders, betont er, sei
allerdings die extreme Ausprägungsform ihrer sexuellen Neigung - und die
Tatsache, dass sie diese auslebten.
Die Sexualwissenschaftler betrachten Sexualität in drei Dimensionen: Lust,
Fortpflanzung und Beziehung. Jede Dimension habe beim Einzelnen verschieden
starke Bedeutung. "Brandes ging es fast ausschließlich um Lust, Meiwes
dagegen vor allem um Beziehung", fasst Ahlers zusammen. Ein Zweckbündnis.
"Brandes sehnt sich nach dem maximalen Schmerz", sagt Ahlers. Die Qual soll
ihm die Schuldgefühle nehmen, die er - so vermuten die
Sexualwissenschaftler - wegen seiner Homosexualität hat. Der damals
43-Jährige wünscht sich, Penis und Hoden abgebissen zu bekommen, will
dadurch "die symbolische Zerstörung seiner Sexualität". Um sicherzugehen,
dass der 39-jährige Meiwes genügend Beißkraft hat, lässt Brandes sich noch
vor dem Treffen der beiden Fotos von dessen Zähnen schicken. "Der Einsatz,
das Gefühl zu haben, ist mein Tod", schreibt er an Meiwes. Sein Sterben ist
lediglich die logische Folge: "Brandes will auf keinen Fall mit
abgetrennten Genitalien in die Psychiatrie eingeliefert werden", sagt
Ahlers. Er will seine "wertlose Existenz" beseitigt wissen. Was nach seinem
Tod mit ihm geschieht, ist Brandes egal.
Dem Fetischisten Meiwes fehlt der Zugang zu diesem masochistischen Denken
völlig. Sein Fetisch ist das Fleisch eines Mannes, den er sexuell attraktiv
findet: Brandes Fleisch. Das will er zerlegen, zubereiten, zu sich nehmen.
Der andere soll Teil von ihm werden. Sadistische Neigungen sind ihm fremd.
Meiwes glaubt heute noch, dass der andere in ihm weiterleben wollte.
Berichte von Menschenfressern finden sich in allen Zeiten und Kulturen.
Schon bei den alten Griechen verschlang Chronos, der mächtigste der
Titanen, seine Kinder gleich nach der Geburt. Im Grimmschen Märchen "Hänsel
und Gretel" will die Hexe den Jungen mästen und später fressen. Und beim
christlichen Abendmahl opfert sich der Sohn Gottes selbst für einen
kannibalistischen Akt. "Indem sich die Gläubigen den Leib und das Blut
Christi einverleiben, entsteht Zugehörigkeit", schreibt Beier in seinem
Buch.
Auch Meiwes geht es um Bindung. Wie alle Menschen sehnt er sich nach
Geborgenheit und Nähe, nach Akzeptanz und Sicherheit. Seit seiner Jugend
wolle er einen Menschen besitzen, der untrennbar mit ihm verbunden sei, der
"mich nicht mehr verlassen" wird. "Auf die Frage, warum er alles auf Video
aufgenommen habe", antwortete er, und hier hebt Ahlers die Stimme: "Alle
Leute filmen ihre Hochzeit." Den Gutachtern sagte Meiwes, er stehe
innerlich in Verbindung mit Brandes. Das gebe ihm ein gutes Gefühl.
Neben der sexualwissenschaftlichen Analyse von Beier und Ahlers sind im
September zwei weitere Bücher zum Fall erschienen: Der Gießener
Rechtsmediziner Manfred Riße untersuchte den Inhalt der Meiwesschen
Kühltruhe und machte aus seinen Erfahrungen das Buch "Abendmahl der
Mörder". Der ehemalige Bild-Journalist Günter Stampf veröffentlichte
"Interview mit einem Kannibalen", in dem er sich von Meiwes seine
Geschichte erzählen lässt.
Sie beginnt im Februar 2001. Im Internet lernen sich Brandes und Meiwes
kennen. Die beiden hätten sich genauso verhalten, wie die meisten Menschen,
die auf der Suche nach einem Partner sind, sagt Ahlers. Mit Imponiergehabe
und Selbstbeschönigung, mit Halb- und Unwahrheiten. So behauptet Brandes in
einer der vielen hundert Mails, die sie sich in langen Nächten schreiben,
sieben Jahre jünger und einige Kilo leichter zu sein. Sie hätten sich und
ihre Verbindung idealisiert, ist Ahlers überzeugt, sich vorgemacht, für
einander geschaffen zu sein, "und wollten doch etwas Grundverschiedenes".
Sicher, den "Traumpartner" gefunden zu haben, verabreden sie sich. Am
Morgen des 9. März 2001 holt Meiwes den Berliner Ingenieur am Bahnhof
Kassel-Wilhelmshöhe ab. Er hätte seinen Chatpartner gern länger
kennengelernt, hatte sogar Kuchen gebacken, aber Brandes drängt auf Eile.
Meiwes soll seinen Penis abbeißen. Als er das nicht schafft, nimmt er ein
Messer. Gemeinsam versuchen sie anschließend, das abgeschnittene
Geschlechtsteil zu essen. Später ersticht Meiwes seinen Partner und friert
Teile von ihm ein.
"Wenn es nach Meiwes gegangen wäre, hätte Brandes sich am besten selbst
umgebracht", sagt Ahlers. "Es war kein Lustmord." Die Sexualwissenschaftler
gehen davon aus, dass Meiwes wieder einen Mann geschlachtet hätte, wäre das
Verbrechen nicht entdeckt worden. Dann aber, sagt Meiwes, "ohne den ganzen
Quatsch" mit Penisabschneiden zu Lebzeiten. Das habe er nur Brandes zuliebe
gemacht.
So unfassbar das Geschehen ist, psychiatrisch krank war weder Brandes noch
Meiwes. "Sie waren in sexualmedizinischer Hinsicht krank", sagt Ahlers. Das
sei therapierbar. Sexueller Fetischismus und Masochismus sind wie
Pädophilie oder Sadismus Störungen der sexuellen Präferenz. Ganz
überwiegend seien Männer davon betroffen. "Das ist Schicksal und nicht
Wahl", sagt Ahlers. "Man kann in diesen Fällen wirksam behandeln, aber
heilen im Sinne einer Löschung des Problems kann man nicht." Im Rahmen
einer Psychotherapie könnten die Betroffenen lernen, mit ihren sexuellen
Bedürfnissen so umzugehen, dass sie weder sich noch anderen schaden.
Medikamente könnten das unterstützen, indem sie das sexuelle Verlangen
dämpfen: "So wird der Kopf frei zum Nachdenken."
Der Buchautor Günter Stampf schätzt, dass allein in Deutschland über 10.000
Menschen im Internet auf Foren unterwegs sind, die "Verspeist-Forum" oder
"Menschenfleisch-Forum" heißen. Nicht jeder, der dort surfe, sei
potenzieller Menschenfresser oder Schlachtopfer, relativiert Ahlers. Aber
das Internet berge Gefahren: Neue Subkulturen entstünden hier, die
gesellschaftliche Normen relativieren und durch eigene ersetzen. Die
Hemmschwelle sinkt. "Die Wahrscheinlichkeit, dass es von der bloßen
Fantasievorstellung zur Tat kommt, steigt."
Professor Beier und sein Mitarbeiter kamen in ihrem Gutachten zum Ergebnis,
dass Meiwes keine Gefahr für die Allgemeinheit darstellt. Trotzdem wurde er
wegen Mordes und Störung der Totenruhe zu lebenslanger Haft verurteilt.
Gegen das Urteil hat Meiwes Beschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht
eingereicht.
Die Karlsruher Richter werden sich also wieder mit dem Fall
auseinandersetzen müssen - und die Öffentlichkeit wird es mit Schaudern,
Abscheu und Sensationslust verfolgen.
Klaus M. Beier: "Sexueller Kannibalismus". Urban & Fischer, 74,95 Euro
Manfred Riße: "Abendmahl der Mörder". Militzke Verlag, 18 Euro Günter
Stampf: "Interview mit einem Kannibalen". Seeliger Verlag, 19,90 Euro
11 Oct 2007
## AUTOREN
Petra Kilian
## TAGS
Kannibalismus
Kannibalismus
USA
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