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# taz.de -- Debütroman aus Belgien: „Es hängt etwas Dunkles darüber“
> „Und es schmilzt“ ist eine dunkle Dorfgeschichte aus Belgien. Lize Spit
> erzählt von ländlichem Alkoholismus und druckvoller Jugenderotik.
Bild: Die Autorin von „Und es schmilzt“, Lize Spit
taz am wochenende: Ein flämischer Roman aus Belgien, der auch die
Niederlande im Sturm erobert – das kommt nicht oft vor. Wie erklären Sie
sich diesen Erfolg?
Lize Spit: Es stecken wohl ein paar Themen in dem Buch, die vielen Menschen
vertraut sind. Meine Hauptfigur Eva hat zum Beispiel alkoholkranke Eltern.
Auch die Enge in einem Dorf kennen viele Leute, ebenso die Einsamkeit in
der Pubertät.
Die Geschichte spielt in einem flämischen Dorf. Im Zentrum stehen Eva und
ihre beiden besten Freunde Pim vom Bauernhof und Laurens, dessen Eltern
eine Schlachterei haben. Pims Bruder hat Selbstmord begangen, was vertuscht
wird. Inwiefern erzählen Sie eine typisch flämische Geschichte?
Flamen sagen oft nicht, was wirklich los ist. Sie sitzen zusammen am Tisch,
und es hat den Anschein, ein Elefant stünde daneben. Jeder weiß es, aber
niemand spricht es aus. Deswegen hat der Roman in Flandern einen noch
größeren Erfolg als in den Niederlanden. Die Niederländer reden viel freier
heraus als wir. In meinem Roman passiert so viel Furchtbares, doch niemand
greift ein. Für manche mag das übertrieben wirken, aber Flamen können das
gut verstehen.
War Ihr Roman direkt ein Erfolg oder wie wurde er zum Bestseller?
Das ging sehr schnell. Einen Tag bevor der Roman erschien, stand bereits
eine Rezension in De Standaard, einer der größten belgischen
Tageszeitungen. Die andere große Zeitung, De Morgen, zog gleich nach. Dann
kam das Fernsehen. Vom ersten Verkaufstag an erging es meinem Roman wie
einem Schneeball, der einen Berg runterrollt und immer dicker wird. Nach
einer Woche musste bereits nachgedruckt werden.
Wie gingen Sie mit dem plötzlichen Ruhm um?
Auf einmal war ich eine öffentliche Person. Das hatte ich überhaupt nicht
erwartet. Vielleicht liegt es daran, dass der Roman so dunkel und grausam
ist und dass ich selbst eher süß aussehe. Ich trage gerne Kleidung mit
aufgedruckten Tierchen und niedliche Broschen. Das passte für die Leute
irgendwie nicht zusammen. Manche Journalisten fragten mich sogar, welches
Shampoo ich verwende.
Ist das nicht unangenehm?
Doch, sehr. Es haben sich auch Sponsoren bei mir gemeldet, die mich in
Kleider von bestimmten Marken stecken wollten. Und eine Biermarke wollte
mich für Bierreklame engagieren. Viel schlimmer aber war es, dass
Journalisten auch in mein Heimatdorf geschickt wurden. Schnell war ja klar,
dass der Ort, den ich im Roman Bovenmeer nenne, meinem Heimatdorf in der
Gemeinde Zandhoven nachgebildet ist. Die Journalisten sind mit Kameras in
das Dorf gekommen, haben bei den Leuten geklingelt und gefragt, welche
Szenen in meinem Roman tatsächlich so passiert sind. Sie haben alles
abfotografiert: Pims Bauernhof oder den See, in dem die Kinder im Roman
schwimmen gehen.
Wie hat man in Ihrem Dorf auf den Roman und den Rummel darum reagiert?
Gemischt. Aber viele sind auch stolz darauf, dass das Dorf Schauplatz eines
Romans wurde. Die Bibliothek der Gemeinde Zandhoven besitzt zehn Exemplare
meines Romans, und die sind bis auf den heutigen Tag permanent ausgeliehen.
Ich gehe also mal davon aus, dass hier bald wirklich jeder meinen Roman
gelesen hat.
Ihr Buch wirkt aufgrund seiner Düsterkeit selbst wie die Rache am eigenen
Dorf. Können Sie trotzdem noch zu Besuch zurückkehren?
Ja, das kann ich.
Sie hatten bereits ein paar Kurzgeschichten veröffentlicht, bevor Sie sich
an die Arbeit von „Und es schmilzt“ machten. Woher kam die Grundidee?
Ich wollte von Anfang an einen Roman über jemanden schreiben, der durch
seine Freunde total erniedrigt wird. Zunächst sollte das allerdings ein
Junge sein, der sich als Mann später rächt. Bald merkte ich aber, dass ich
das nicht konnte. Ich habe nie im Körper eines pubertierenden Jungen
gesteckt. Dann habe ich den Jungen in ein Mädchen umgeformt. So entstand
Eva. Die sollte anfangs aber noch 40 oder 50 Jahre alt sein, als sie Rache
nimmt. Das aber passte auch wieder nicht in meinen Erfahrungsraum. Ich weiß
ja nur, wie man in den 1990er Jahren aufwuchs. Wir hatten damals so kleine
Kipling-Äffchen am Schulranzen hängen, und wir trugen dehnbare Halsketten,
die wie Tattoos aussahen. So was kann ich gut beschreiben. Deswegen ist Eva
nun so alt wie ich selbst.
Und die Rache-Idee war der Ausgangspunkt?
Ja. Auf der einen Seite steht Evas Rache dafür, dass ihre beiden Freunde
Pim und Laurens sie als 14-Jährige schlimm erniedrigt haben. Aber auf der
anderen Seite wollte ich auch Evas liebevolles Verhältnis zu ihrer kleinen
Schwester Tesje beschreiben.
Tesje ist ein sehr sensibles Kind und bildet in der Alkoholikerfamilie, in
der sie zusammen mit Eva aufwächst, schwere Zwangsneurosen aus.
Das erste Kapitel, das ich schrieb, war die Szene, in der Tesje Läuse hat
und ihr zu Hause deshalb der Kopf mit Mayonnaise vollgeschmiert wird. Da
merkte ich, dass ich auch Evas Familie mehr Form geben musste, nicht nur
den Freunden. So wurde das Buch vielschichtiger. Und für mich natürlich
auch sehr persönlich, da ich einige meiner Erfahrungen darin verarbeitet
habe.
Die Geschichte steckt voll psychischer, aber auch körperlicher Gewalt.
Empfinden Sie ihn selbst auch als dunkel?
Ja, das erschreckt mich manchmal selbst. Während des Schreibens war ich so
konzentriert, dass ich das gar nicht gemerkt habe. Es hängt etwas Dunkles
über dieser Erzählung. Das ist eine Kraft, die in mir steckt. Die zieht
auch jetzt an mir, da ich an meinem zweiten Roman arbeite.
Haben Sie keine Angst, nun ein zweites Buch zu schreiben, auf das zumindest
schon ganz Flandern wartet?
Ich fühle schon einen großen Druck auf mir lasten. Ich muss mir auch selbst
beweisen, dass ich noch mehr schreiben kann. Erst wenn ich jetzt den
zweiten Roman vorlege, weiß ich, dass ich wirklich Schriftstellerin bin.
Wenn das nicht klappt, dann bleibe ich bloß die Autorin eines einzigen
Buches.
Eva geht schließlich zum Studieren nach Brüssel. Darin folgt sie Ihnen, die
Sie in Brüssel Szenisches Schreiben studiert haben und dort noch immer
leben.
Ich habe Eva nach Brüssel ziehen lassen, weil ich Brüssel sehr gut kenne.
Außerdem ist Brüssel eine etwas heruntergekommene Stadt; das passt zu Eva,
die emotional ebenfalls verwahrlost ist. Trotzdem habe ich ihre Umgebung in
dem Roman nicht weiter ausgearbeitet. Die Stadt ist also eigentlich
austauschbar. Ich habe das bewusst so gemacht und wollte mir Brüssel noch
ein bisschen aufsparen. Eben für spätere Erzählungen, die nun folgen.
13 Dec 2017
## AUTOREN
Katharina Borchardt
## TAGS
Flandern
Lesestück Recherche und Reportage
Lesestück Meinung und Analyse
Kannibalismus
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