# taz.de -- Nachruf auf Hans-Dietrich Genscher: Nur ein einziges Mal geliebt | |
> Er war unverstanden, aber bewundert. Als Berufspolitiker und Diplomat | |
> setzte Hans-Dietrich Genscher Maßstäbe der Undurchsichtigkeit. | |
Bild: Hans-Dietrich Genscher im Jahr 2014 | |
„Schreckliches Unglück: Zwei Flugzeuge sind in der Luft zusammengestoßen. | |
In beiden saß Genscher.“ Witze über Politiker sind selten freundlich. In | |
diesem aber schwang neben Spott auch Bewunderung mit: für einen | |
Außenminister, der im Interesse der Entspannungspolitik zwischen Ost und | |
West eine unermüdliche Reisediplomatie zu einem Zeitpunkt betrieb, als | |
diese so noch nicht üblich war; und der sich dabei selbst nicht geschont | |
hat. | |
Vermutlich hat Hans-Dietrich Genscher den Witz gemocht, denn so sehr viel | |
ironische Zärtlichkeit ist ihm öffentlich im Laufe seines langen | |
Politikerlebens nicht zuteil geworden. Zu widersprüchlich schien sein | |
politisches Handeln, zu undurchsichtig waren seine Motive, zu selten und zu | |
wenig ließ er erkennen, was ihn persönlich eigentlich antrieb und bewegte. | |
Geachtet wurde er, auch bewundert und als Taktiker gefürchtet – aber | |
geliebt? Vielleicht nur ein einziges Mal. | |
Am 30. September 1989 nämlich, wenige Wochen vor dem Fall der Mauer. Da | |
trat er am frühen Abend auf den Balkon der westdeutschen Botschaft in Prag, | |
in der mehrere Tausend DDR-Bürger wochenlang in der Hoffnung ausgeharrt | |
hatten, ungehindert in die Bundesrepublik weiterreisen zu können. Und | |
sprach die Worte, mit denen er in die Geschichte eingehen wird: „Liebe | |
Landsleute, wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute | |
Ihre Ausreise in die Bundesrepublik Deutschland möglich geworden ist.“ | |
Ein Sturm der Begeisterung brach los. Wenn es einen konkreten Zeitpunkt | |
gibt, zu dem der Zusammenbruch der bipolaren Welt und die Öffnung des | |
Eisernen Vorhangs nicht mehr aufzuhalten war: dann war es vermutlich dieser | |
Augenblick. Und nicht die noch weit berühmtere Pressekonferenz des | |
SED-Politikers Günter Schabowski, der – mit einer von ihm selbst erkennbar | |
nicht verstandenen Mitteilung – am 9. November 1989 den ungeplanten Fall | |
der Mauer bewirkte. | |
## Professioneller Strippenzieher | |
Natürlich wären die entscheidenden Weichen auch ohne Hans-Dietrich Genscher | |
gestellt worden. So einflussreich ist kein einzelner Politiker, dass er | |
allein den Lauf der Geschichte bestimmen kann, schon gar nicht jemand, der | |
nur der Außenminister eines demokratischen Staates ist. | |
Aber ob die friedliche Revolution ohne sein Zutun genauso friedlich | |
verlaufen wäre, so ganz ohne Blutvergießen? Es gibt gute Gründe, das zu | |
bezweifeln. Und wenn es keinen anderen Grund gäbe, ihm dankbar zu sein: | |
Dieser würde genügen. | |
Hans-Dietrich Genscher war das, was heute gerne verachtet wird – ein | |
Berufspolitiker. Der gebürtige Hallenser war noch nicht einmal 20 Jahre | |
alt, als er 1946 in der damaligen sowjetischen Besatzungszone, der späteren | |
DDR, in die Liberal-Demokratische Partei (LDP) eintrat. Nach seiner | |
unspektakulären Umsiedlung in die Bundesrepublik – der Bau der Mauer lag | |
noch in weiter Ferne – trat er 1952 in die FDP ein. Und zog dort schnell | |
Strippen. | |
Ohne Genscher und sein Engagement für die sozialliberale Koalition wäre | |
Willy Brandt vielleicht niemals Bundeskanzler geworden. Genscher war ein | |
Wegbereiter des politischen Wandels in der Bundesrepublik, in der die | |
Sozialdemokratie damals immer noch als ein wenig anrüchig galt – vielleicht | |
wollten die „Sozen“ ja doch die sozialistische Revolution? – und von weit… | |
Teilen der bürgerlichen Mittelschicht nicht als legitime politische Kraft | |
akzeptiert wurde. | |
## Freund der atomaren Bewaffnung | |
Aber ohne Hans-Dietrich Genscher, der unter Brandt zunächst Innenminister | |
und nach dessen Rücktritt unter dessen SPD-Nachfolger Helmut Schmidt | |
Außenminister war, wäre die sozialliberale Koalition auch nicht zerbrochen. | |
Wirtschaftspolitische Vorwände dienten 1982 als Begründung für das Ende des | |
Bündnisses. Geglaubt hat diese Argumente damals kaum jemand, inzwischen | |
lässt sich mit einiger Bestimmtheit sagen: Der wahre Grund für den | |
mutwillig herbeigeführten Bruch der Koalition war im Widerstand großer | |
Teile der SPD-Basis gegen den Nato-Doppelbeschluss zu sehen. Der eine | |
atomare Aufrüstung vorsah. | |
Weite Teile der Bevölkerung standen diesem Kurs ablehnend oder zumindest | |
skeptisch gegenüber. Hans-Dietrich Genscher nicht. Er hielt ihn für | |
richtig. | |
Der Preis, der für den geschmeidigen Wechsel zur Koalition mit den | |
Unionsparteien gezahlt werden musste, war hoch – sowohl für die Person wie | |
auch für die Partei. Das „Umfaller“-Image sind weder die FDP noch | |
Hans-Dietrich Genscher, der seit 1974 und noch bis 1985 Parteivorsitzender | |
war, je wieder losgeworden. | |
Ist das gerecht? Ja und nein. In diesem Text geht es um Genscher. Nicht um | |
die FDP, jedenfalls nicht in erster Linie. Die Wiedervereinigung war dem | |
westdeutschen Politiker aus dem ostdeutschen Halle ein größeres Anliegen, | |
als ihm das selbst vermutlich lange bewusst gewesen ist. In den 60er, 70er | |
und 80er Jahren galten alle, die öffentlich von einer Verschiebung der | |
Grenzen sprachen, entweder als Traumtänzer – oder, weit schlimmer, als | |
Revisionisten und potenzielle Kriegstreiber. | |
## Rücktritt aus unbekannten Motiven | |
Ein Kriegstreiber ist Hans-Dietrich Genscher, der im Zweiten Weltkrieg noch | |
als Flakhelfer eingesetzt worden war und später in Gefangenschaft geriet, | |
niemals gewesen. Entspannung, Kompromiss, das bestmögliche Ergebnis | |
diplomatischer Bemühungen: das war offenbar wohl sein Lebensmotiv. | |
Der Bundesrepublik Deutschland hätte weit Schlimmeres passieren können als | |
ein Außenminister, der über knapp zwei Jahrzehnte hinweg um Frieden ringt. | |
Notfalls eben sogar in zwei Flugzeugen gleichzeitig, die einander innerhalb | |
desselben Luftraums begegnen. | |
Aber hätte es auch Möglichkeiten gegeben, die noch wünschenswerter gewesen | |
wären? Ja, vermutlich schon. Nämlich: ein Außenminister, von dem das Land | |
gewusst hätte, was er eigentlich will – und warum er etwas will. Bis heute | |
steht nicht fest, was Hans-Dietrich Genscher veranlasst hat, Ende April | |
1992 seinen völlig überraschenden Rückzug vom Amt des Außenministers | |
bekannt zu geben. | |
War es das Gefühl, einen schwer wiegenden, nicht wieder gutzumachenden | |
Fehler begangen zu haben, als er Ende 1991 – mehr oder minder im Alleingang | |
– die Anerkennung der ehemaligen jugoslawischen Teilrepubliken Slowenien | |
und Kroatien verkündete? Wollte er sich mit den Folgen dieser Entscheidung | |
nicht mehr auseinandersetzen? Oder gab es Gründe, die wir bis heute nicht | |
kennen und die Hans-Dietrich Genscher mit ins Grab nimmt? | |
Manches spricht für die letztgenannte Möglichkeit. Hans-Dietrich Genscher | |
konnte immer besser schweigen als reden. Und es war seine Sache nicht, viel | |
Aufhebens von der eigenen Person zu machen. | |
## Nicht drüber reden | |
Rückblick, 1972: Israelische Sportler wurden während der Olympischen Spiele | |
in München als Geiseln genommen. Hans-Dietrich Genscher bot sich im | |
Austausch an, was von den palästinensischen Terroristen jedoch abgelehnt | |
wurde. | |
Erinnern Sie sich an Auftritte bei Kerner, Lanz, Gottschalk? Bei denen | |
Genscher über seine damaligen Gefühle, seine Ängste, seine Familie sprach? | |
Nein? Kein Wunder. Es gab sie nicht. Der Politiker hat weiter seinen Job | |
gemacht. Nicht mehr, nicht weniger. Angebot abgegeben, Angebot abgelehnt. | |
Es gab aus Sicht von Genscher keinen Grund, darüber weiter zu reden. | |
Ach, es gibt doch manches zugunsten von Berufspolitikern zu sagen. Falls es | |
ein Jenseits gibt: Dann würde man dort vermutlich gerne mit Genscher | |
streiten. Man wäre nicht überrascht, ihn zu treffen. Aber man würde eben | |
dort auch SPD-Granden begegnen, die nicht ganz so begeistert wären über | |
Genscher im Himmel. Denn manche von denen haben ihm bis zum Lebensende | |
nicht verziehen. | |
1 Apr 2016 | |
## AUTOREN | |
Bettina Gaus | |
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