Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Leipziger Buchmesse: Wege aus dem moralischen Eifer
> In der Literatur zeigt sich 2016 die Lust am Exzess. Diese Kunst
> beherrscht keiner so gut wie Thomas Glavinic mit „Der Jonas-Komplex“.
Bild: Spricht aus, was er denkt: Thomas Glavinic
„Hug me“ steht auf einem Pappschild geschrieben, das um den Hals eines
jungen Mädchens hängt. Sie kommt aus Halle 1, wo während der Leipziger
Buchmesse die Manga Convention stattfindet. Über dem „Hug me“-Schriftzug
auf ihrem Pappschild ist ein comichaft hingekritzelter Kaktus zu erkennen.
Ein Kaktus, der umarmt werden möchte – irgendwie sehr bezeichnend für die
Logik der Buchmesse, die sich abseits des bunten Mangakosmos abspielt.
Vorrangig soll es hier ja um Literatur gehen und um die Begegnung aller
Beteiligten: Autoren, Verlage, Presse, Leser. Nur sind die Bedingungen
dafür denkbar schlecht. Gelangweilte Schülermassen schieben sich nach Luft
ringend durch die Gänge. Autoren werden interviewt von Moderatoren, die
ihre Bücher nicht kennen. Und im Umkreis von 50 Zentimetern beißt ständig
irgendwer in eine Wurst. Insofern gleicht die Buchmesse eigentlich jeder
anderen Massenveranstaltung.
Oberste Priorität haben ein immerzu lächelndes Servicepersonal und genügend
Notausgänge. Nur kommt noch eine Anzugträger-Seriosität hinzu, die eines
der Kernprobleme der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur schön auf den
Punkt bringt: Man ist auf der Suche nach unkonventionellen Lebenswelten, in
die man kurzweilig abtauchen kann, ohne den eigenen Anschluss zur
Konvention zu verlieren. Drei große Belletristik-Titel, die auf der Messe
vorgestellt werden, möchten diese Lust am Kaputten, am Extremen
befriedigen.
## Die eigene Kaputtheit zur Schau gestellt
Da ist zum einen Heinz Strunks „Der Goldene Handschuh“, der extrem
voyeuristisch auf das Suffmilieu vom Hamburger Berg der siebziger-Jahre
blickt. Er galt als Favorit für den Buchpreis, der am Donnerstag jedoch
Guntram Vesper verliehen wurde. Zum anderen eignet sich Anna Katharina Hahn
in „Das Kleid meiner Mutter“ die Perspektive einer jungen arbeitslosen
Spanierin an, um von den Auswirkungen der Krisenpsychologie zu erzählen.
Der eine bedient sich dem ausbeutenden Ekel auf ein ihm scheinbar weit
entferntes Setting, die andere einer konstruierten Verzweiflung, die
furchtbar aufgesetzt wirkt. Ein dritter Titel dagegen kommt ohne all das
aus und ist unter anderem deshalb eines der klügsten und aufregendsten
Bücher der Saison geworden: „Der Jonas-Komplex“ von Thomas Glavinic, dem
Wiener Schriftsteller, der die eigene Kaputtheit schulterzuckend zur Schau
stellt.
Wer sich mit dem Schriftsteller zum Kaffee verabredet, darf damit rechnen,
dass er in der Messekantine am Mittag einen Jägermeister und einen Weißwein
bestellt. Doch von alldem, was Glavinic nachgesagt wird (von „schwierig“
über „genial“ bis hin zu „drogenabhängig“ oder „Arschloch“), wirk…
maßlos übertrieben. Andere Klischees wiederum erfüllt der Wiener binnen
wenigen Minuten. Klar ist jedenfalls: Glavinic nimmt seine Arbeit ernster
als sich selbst. Und das ist schon mal einmalig.
## Ein halber Jugo
„Ich bin halber Jugo“, sagt Glavinic am Kantinenstehtisch. „Ich bin nah am
Wasser gebaut, und mir ist es scheißegal, wer mir beim Weinen zusieht.“
Charmant ist der robuste kahlköpfige Mann in T-Shirt und Nike-Sneakern
allemal. Großzügig mit Trinkgeld, höflich zu den Mitmenschen. Gleichzeitig
aber spricht er alles aus, was ihm gerade so durch den Kopf geht.
Nazi-Witze, Geschichten über gescheiterte Beziehungen, sein Unbehagen an
Literaturkritikern.
Vieles von dem, was sich bei einem Treffen mit ihm abspielt, erinnert an
Reportagen über ihn und Szenen aus seinem jüngsten Buch. Gleichzeitig aber
ist der 43-Jährige so aufmerksam und sensibel, dass er auf jede Kleinigkeit
reagiert, die um ihn herum passiert. Häufig mit Misstrauen. Man kann sich
schwer entscheiden, ob man Größenwahn oder Selbstzweifel darin erkennen
möchte.
Drei Handlungsebenen bringt der Autor in seinem inzwischen elften Roman
zusammen, ohne mit Pointen und Querverweisen zu geizen. Aus der Perspektive
eines Schriftstellers berichtet er vom Jahr 2015, das vorrangig mit
Exzessen, der Suche nach Nähe und in Gesellschaft seines Freundes Werner,
eines erfolgreichen Anwalts, der unter anderem die Hells Angels vertritt,
verbracht wird.
Die zweite Ebene ist die eines 13-Jährigen im Jahr 1985, der sich vom
seelischen und sexuellen Missbrauch durch seine Umgebung in das
Schachspielen flüchtet. Und schließlich folgen noch die Abenteuer der Figur
Jonas, der bereits aus dem letzten Roman, „Das größere Wunder“, bekannt
ist.
Eine Sache, von der Glavinic behauptet, sie nerve ihn ungemein, ist der
Umstand, dass er ständig mit dem Icherzähler aus „Der Jonas-Komplex“
gleichsetzt werde, der im 4. Wiener Bezirk lebt, Romane schreibt und ein
Alkoholproblem hat. „Sorry, aber wie schreibst du einen 750-Seiten-Roman,
wenn du ununterbrochen betrunken bist?“, fragt Glavinic in diesem bissigen
Ton, und ja, es klingt schon fragwürdig.
## Hells-Angels-Kutten
Doch das Spiel mit Fiktion und Realität scheint sowohl Glavinic als auch
seine Leser unheimlich zu reizen. Wenn er angetrunken und etwas verspätet
zu seiner Abendlesung in der voll besetzten Connewitzer Buchhandlung
erscheint, kündigt der Moderator amüsiert an, es sei nicht auszuschließen,
„dass der Abend katastrophal wird“. Vier kräftige Männer in
Hells-Angels-Kutten sitzen in der ersten Reihe, daneben Glavinic‘bester
Freund, der Werner heißt und Anwalt ist. „Wir müssen das Niveau heute
niedrig halten, weil meine Freunde da sind“, sagt Glavinic, nur wenige im
Publikum trauen sich zu kichern. „Ich lese heute die lustigen Stellen.“
Am späteren Samstagabend beim Italiener abseits des Messegeländes rührt der
Autor seine Pizza kaum an und erzählt stattdessen vom „moralischen Eifer“
und dass man nur versuchen könne, ein guter Mensch zu sein. Wer sich
prinzipiell für einen halte, sei ihm suspekt. Im schicken Szenebezirk unter
Artgenossen sei es einfach, „gut“ zu sein. „Ich bin wirklich kein Freund
von Rassisten. Aber ich glaube an das Gespräch. Und wer mit der AfD nicht
sprechen will, der hat nichts verstanden.“
Der Titel seines letzten Romans geht übrigens auf einen Begriff aus der
Psychologie zurück. Der so genannte Jonas-Komplex bezeichnet die Angst vor
Herausforderungen. „Erfolg bringt Verantwortung, das macht vielen Angst.
Ichkann’sverstehen“, sagt Glavinic. Welche Rolle spielen Angst und Zweifel
für ihn selbst als Autor beim Schreiben?
„Ich weiß, dass ich besser als die meisten Schriftsteller bin. Aber das ist
noch lange nicht gut genug.“
20 Mar 2016
## AUTOREN
Fatma Aydemir
## TAGS
Schwerpunkt Leipziger Buchmesse 2024
Shortlist
Literatur
Benjamin von Stuckrad-Barre
Buchpreis
## ARTIKEL ZUM THEMA
Shortlist Deutscher Buchpreis 2016: Vom Sommer und der Welt
Sechs Bücher haben die Chance, zum besten Roman des Jahres gewählt zu
werden. Unter anderem ist Thomas Melles „Die Welt im Rücken“ nominiert.
Deutsch-französische Nachkriegszeit: Das Staunen in der Fremdheit
Ein atmosphärisch verdichtetes Bild einer Epoche: Sylvie Schenks Roman
„Schnell, dein Leben“. Er erzählt eine Biografie im Schnelldurchgang.
Roman über die Krise: In spanischer Hitze
Von Madrid in die Vergangenheit: „Das Kleid meiner Mutter“ von Anna
Katharina Hahn verwischt Grenzen zwischen Realität und Vorstellung.
Kolumne Die Couchreporter: Kaputt sein bleibt Männersache
Wie „Mad Men“, nur Siebziger: So ist die neue HBO-Serie „Vinyl“. Es ste…
sich die Frage, warum wir Menschen so sehr feiern, die sich selbst
zerstören.
Liverpool auf der Leipziger Buchmesse: Die Schönheit der Stimme beim Lesen
Literatur will erobert werden. Wie man beim Zugang zum Buch hilft, zeigt
das Projekt „The Reader“ aus Liverpool in Leipzig.
Buchmesse in Leipzig: Mangamädchen und Rabenmütter
Gesellschaft ohne Fremdbestimmung: Das wünscht sich die Soziologin Orna
Donath, die über Mutterschaft auf Druck der Gesellschaft forscht.
Leipziger Buchpreise 2016: Geschichten des Lebens
Guntram Vesper, Jürgen Goldstein und Brigitte Döbert werden in Leipzig in
den Kategorien Belletristik, Sachbuch und Übersetzung geehrt.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.