| # taz.de -- Arzneimitteltests in der DDR: Keine fragwürdigen Versuche | |
| > Medizinhistoriker, die Tests von Westmedikamenten in der DDR | |
| > untersuchten, konnten die Vorwürfe entkräften, dass dort Menschenversuche | |
| > stattfanden. | |
| Bild: Charité im Osten Berlins: Die DDR-Ärzte wollten einen Zugang zu den Wes… | |
| „Menschenversuche“ ist ein hässlicher Begriff. Wer damit in Verbindung | |
| gebracht wird, rückt in die Nähe vorwissenschaftlicher Medizin oder der | |
| planmäßig organisierten medizinischen NS-Forschung oder in anderen | |
| Diktaturen. Über die Frage, was die DDR dargestellt hat, gibt es | |
| unterschiedliche Meinungen, aber selbst weniger Wohlmeinende räumten nach | |
| der Wende ein, dass etwa das Poliklinik-System durchaus hätte beerbt werden | |
| können. | |
| Die von westlichen Pharmafirmen in der DDR in Auftrag gegebenen | |
| Arzneimittelprüfungen dagegen waren schon nach der Wende Stein des | |
| Anstoßes, der Öffentlichkeit und ärztliche Standesorganisationen | |
| beschäftigte, allerdings ohne handfesten Skandalkern. | |
| Der Argwohn blieb, und als der Spiegel 2013 noch einmal Schlagzeilen machte | |
| mit den „DDR-Menschenversuchen“, war die Aufregung groß, denn es passte ins | |
| Schwarzweißbild, dass ein finanziell heruntergewirtschafteter Staat sein | |
| letztes Gut, sein „Menschenmaterial“, an skrupellose westliche | |
| Pharmakonzerne auslieferte, um sich über Wasser zu halten. Unwissende und | |
| wehrlose Probanden gegen dringend benötige harte Devisen, das schien nicht | |
| nur vorstellbar, sondern auch logisch. | |
| Den Rechercheuren war es immerhin zu verdanken, dass die klinische | |
| Arzneimittelforschung in der DDR überhaupt als Forschungsgegenstand in den | |
| Fokus rückte. Eher spärlich finanziert vom Bundesbeauftragten für die neuen | |
| Länder, einigen Ärztekammern und – ganz am Rande in Form eines Ablasses von | |
| 15.000 Euro – von der pharmazeutischen Industrie, stellten sich drei | |
| Berliner Medizinhistoriker unter der Leitung von Volker Hess dieser | |
| wissenschaftlichen Herkulesaufgabe angesichts der unübersichtlichen, von | |
| der Industrie unter Verschluss gehaltenen und von restriktiven | |
| Datenschutzauflagen geprägten Quellenlage. | |
| Ihre nun vorgestellte Abschlussstudie – das erste umfassende „mapping“ in | |
| Bezug auf klinische Studien, wie die Vorsitzende des wissenschaftlichen | |
| Beirats, Carola Sachse, hervorhebt – stutzt den „Aufreger“ nun auf seine | |
| realen Dimensionen zurück. | |
| ## Kooperation begann schon sehr früh | |
| Denn vom angenommenen Skandalon, das, wie Laura Hottenrott ausführte, | |
| angeblich darin bestand, dass DDR-Patienten ohne ihre Einwilligung | |
| wissenschaftlich zweifelhaften Versuchen ausgesetzt wurden, um die DDR zu | |
| sanieren, bleibt bei genauerer Betrachtung wenig übrig. Richtig ist, dass | |
| westliche Arzneimittelhersteller – vor allem von deutschen Unternehmen wie | |
| Bayer, Boehringer-Ingelheim, Schering und Hoechst, aber auch von Schweizer | |
| Pharmakonzernen wie Sandoz und Ciba-Geigy bis hin zu Global-Player wie | |
| Pfizer – nicht etwa erst seit den achtziger Jahren, sondern schon mit der | |
| Gründung der DDR ihre Vertreter nach Ostdeutschland schickten, um ihre | |
| Medikamente und Medizinprodukte testen zu lassen. | |
| Richtig ist auch, dass die DDR ab 1982 den „immateriellen | |
| Arzneimittelexport“ (Imex) in ein Programm goss, das zentral über ein | |
| spezielles Beratungsbüro verwaltet und kanalisiert, über | |
| Schalck-Golodkowskis KoKo-Firmen abgerechnet und vom Ministerium für | |
| Staatssicherheit kontrolliert wurde. | |
| In der ersten Phase, also bis Inkrafttreten des auf den Contergan-Skandal | |
| reagierenden DDR-Arzneimittelgesetzes 1964 – übrigens 14 Jahre vor der | |
| Bundesrepublik eingeführt – geschah dies noch relativ „wild“, dann | |
| zunehmend geordneter und durchaus unter Einhaltung der damals gängigen | |
| wissenschaftlichen Standards. Die Aufklärung der Probanden erfolgte, soweit | |
| die Quellenlage eine Beurteilung zulässt, nach den damals üblichen Regeln, | |
| „Zwischenfälle“ wurde an das Beratungsbüro gemeldet, und die Studien | |
| unterlagen keineswegs der Geheimhaltung, auch wenn heutige Ansprüche auf | |
| Transparenz nicht erfüllt sind. | |
| ## Es ging nicht um die Kosten | |
| Teilweise handelte es sich um Studien der Phase drei, die vergleichend auch | |
| in anderen Ländern durchgeführt wurden, nur in einigen Fällen blieben sie | |
| auf die DDR beschränkt. Die dabei untersuchten Wirkstoffe, die von der | |
| Forschungsgruppe teilweise exemplarisch vorgestellt werden, deckten den | |
| gesamten zeitlich jeweils gängigen Indikationsbereich ab. Zwischen 1965 und | |
| 1981 konnte das Team 474 Studien nachweisen, ab 1981 weitere 365, 321 davon | |
| gut dokumentiert. Die Zahl der einbezogenen Testpersonen lässt sich nicht | |
| mehr erheben, wie es überhaupt schwierig war, Patienten zu finden, die | |
| verlässlich an den in Rede stehenden Versuchen beteiligt waren. | |
| Nicht erhärten ließ sich die Annahme, die westlichen Unternehmen hätten | |
| ihre Forschung in ein „Billiglohnland“ ausgelagert. Mit zwei Drittel des | |
| Aufwands, der im Westen bezahlt werden musste, lagen die Fallpauschalen | |
| immer noch über dem, was etwa in der Tschechoslowakei für ähnliche | |
| Dienstleistungen bezahlt werden musste. Was aber hat die beiden ungleichen | |
| Partner dann ins Prokrustesbett der Wissenschaft getrieben? | |
| ## Ärzte wollten bessere Versorgung der Patienten | |
| Die Pharmaunternehmen, so die Historiker, schätzten vor allem die | |
| Verlässlichkeit der in den medizinischen Universitäts- und | |
| Versorgungszentren zentral gesteuerten Studienabwicklung, die den Bedarf an | |
| Probanden sicherte. Die beteiligten DDR-Ärzte waren, neben der erhofften | |
| Reputation und Vorteilen, die der Austausch mit den Westen mit sich | |
| brachte, durchaus an der besseren Versorgung ihrer Patienten interessiert, | |
| die ihrerseits wieder auf Westpräparate hofften und generell größeres | |
| Vertrauen in das medizinische System hatten. | |
| Dass gerade die prekäre medizinische Versorgungslage in der DDR dazu | |
| nötigte, sich an solchen Studien zu beteiligen und schwerkranke Patienten | |
| dabei auch in Kauf nahmen, als Teilnehmer in einer Placebo-Gruppe nicht in | |
| den Genuss lebenserhaltender Mittel zu kommen, ist eines der ethisch | |
| bedenklichen Aspekte der damaligen Versuche. Die Fallstudie des | |
| Blutdrucksenkers Ramipril beleuchtet dieses Dilemma schlaglichtartig. Mit | |
| dem Argument, das Medikament stünde in der DDR ohnehin nicht zur Verfügung, | |
| wurde der Wirkstoff in einer Doppelblindstudie noch getestet, als | |
| international schon bekannt war, dass es in der Placebo-Gruppe zu mehr | |
| Todesfällen kam und die Versuche deshalb abgebrochen wurden. | |
| Die vom DDR-Beratungsbüro abgewickelte Medikamentenprüfung, resümierte | |
| Volker Hess, erlaubten neue Einblicke in die Geschichte der | |
| Arzneimittelregulierung und ihrer Standardisierung, die in zentralistisch | |
| organisierten Staaten schneller durchsetzbar gewesen sei als anderswo. | |
| Problematisch seien weniger das Was und Wie der Forschung, sondern die Art | |
| und Weise, wie die Pharmaindustrie sich den disziplinierenden DDR-Apparat | |
| zunutze gemacht habe. | |
| Trotz der scheinbaren Win-win-Situation für beide Seiten bekräftigte | |
| Sachse, sei diese Forschung mit Risiken behaftet gewesen, weil das | |
| Gefährdungsbewusstsein der Patienten wenig ausgeprägt war und es an einer | |
| kritischen Öffentlichkeit, dafür zu sensibilisieren, fehlte. | |
| 17 Mar 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Ulrike Baureithel | |
| ## TAGS | |
| DDR | |
| Arzneimittel | |
| Klinische Studien | |
| Arzneimittelgesetz | |
| Pharmaindustrie | |
| Medizin | |
| Arzneimittelgesetz | |
| Todesstrafe | |
| DDR | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Handfehlbildung bei Neugeborenen: Weiter dran bleiben | |
| Fehlbildungen an den Händen von Kleinkindern beängstigen. Die mutmaßliche | |
| Häufung weckt Erinnerungen an den Contergan-Skandal. | |
| Arzneimitteltests mit Demenzpatienten: Verschoben, nicht aufgehoben | |
| Dürfen an nicht einwilligungsfähigen Demenzpatienten Tests durchgeführt | |
| werden? Der Bundestag hat eine Abstimmung kurzfristig abgeblasen. | |
| Todesstrafe in den USA: Kein Gift mehr von Pfizer | |
| Der Pharmakonzern Pfizer untersagt die Nutzung seiner Medikamente für | |
| Hinrichtungen. Gegner der Todesstrafe begrüßen den Schritt. | |
| Medikamententests in der DDR: Versuchslabor Ostdeutschland | |
| Westliche Pharmafirmen nutzten DDR-BürgerInnen als Versuchskaninchen ohne | |
| deren Wissen. Das sei kein Skandal, sagen Forscher. |