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# taz.de -- Boßeln in Niedersachen: Der lange Marsch zum Schöt
> Das Spiel mit der Kugel ist mehr als Bollerwagen, Schnaps und
> Grünkohlessen. In Niedersachsen betreiben Vereine dies als ernsten Sport
> mit eigenen Ligen und Wettkämpfen.
Bild: Mit viel Ehrgeiz: In der Saison ziehen die Straßenboßler durch die Moor…
UPLENGEN taz | Noch schafft die Sonne es nicht, den milchigen Schleier aus
der mit Raureif überzogenen Moorlandschaft zu vertreiben. Trotzdem ziehen
bei drei Grad minus an diesem Sonntag schon um 9 Uhr in der Früh etwa 60
Menschen durch den verschwommenen Wintermorgen. „Ist das nicht herrlich!
Das ist Boßelwetter“, ruft Imke Kasper. Kasper ist „voll da“ und feuert
lautstark „ihre Jungs“ an. Die Jungs, das sind unter anderem ihr Mann, ihre
Söhne und Neffen, die sich heute für Uplengen/Hollen mit einem Sieg gegen
Großefehn den zweiten Platz in der BoßelKreisliga Leer sichern wollen. Sie
können dem Tabellenführer Deternlehe sogar noch die Kreismeisterschaft
abjagen.
Echtes Boßeln ist Sport pur. Da gibt es keinen Bollerwagen mit Bier und
Kräuterschnaps. Kein Geschnatter bis zum Grünkohlessen. Echtes Boßeln
verlangt Geschick und Intelligenz und ist für Zuschauer und Werfer der
lange Marsch zum Schöt. So heißt der Punkt, den eine Mannschaft nach einem
gewonnenem Spielabschnitt bekommt. Siegreich ist am Ende die Mannschaft,
die mit den wenigsten Würfen eine Strecke von bis zu acht Kilometern
durchmisst.
„Genau hier! Genau hier“, ruft die Käklerin, so wird die Frau genannt, die
den Mannschaften die Bahnen zuweist. Sie tippt mit der Fußspitze auf den
Asphalt. Hier soll sie hingeworfen werden, die Kugel, der Kloot, das Ding.
„Markus, kneif' die Arschbacken zusammen und gib' alles“, schreit sie dem
Werfer zu. Der steht gut 80 Meter entfernt am Straßenrand, an der „Trüll“,
also da, wo der letzte Wurf gelandet ist.
## Kugel mit Spüli besprüht
Markus liebkost die Gummikugel, knallt sie klackernd auf die Straße, fängt
sie wieder auf und besprüht sie mit Spüli. Andere nehmen lieber
Mineralwasser, Er reibt die Kugel sauber und griffig. Wieder pfeffert er
sie auf den Asphalt, fängt sie auf, blinzelt in Richtung der Kräklerin.
Zielt. Nimmt Anlauf, holt im Sprint mit dem Wurfarm aus, springt hoch und
schleudert den Kloot in die von der Käklerin angegebene Richtung. An einer
Lehmplacke auf der Straße driftet die Kugel ab, kracht am Straßenrand gegen
einen Stein, springt hoch über einen Zaun in einen Garten. „Er hätte das
mehr über den Daumen legen müssen“, kommentiert ein Beobachter, die hier
Mäkler genannt werden.
Besser macht es Thomas. „Sauber, Thomas, sauber! Lat’m rullen!“, ruft ein…
der Mäkler. Das ist plattdeutsch und bedeutet so viel wie „Lass ihn
laufen“. Er, der Kloot, läuft auf diesem geraden Straßenabschnitt fast 150
Meter weit. Natürlich führen die Werfstrecken nicht immer geradeaus. Die
kleinen Straßen schlängeln sich meist durch die norddeutsche Landschaft.
Den Kloot durch die Kurve zu schleudern, das ist die hohe Kunst. „Da muss
man das Ding mit viel Liebe über den Daumen oder den kleinen Finger laufen
lassen. Das gibt den richtigen Drall“, erklärt Thomas. Trotz allen Könnens
landet fast jeder Wurf im Graben. Dafür schleppt die Kräklerin den Krabbel
oder Söker mit. Mit einem an einen langen Stab befestigten Drahtkorb fischt
sie den Kloot aus dem Modder des Straßengrabens.
Pro Verein werfen je zwei Gruppen, mit jeweils vier bis acht Mitgliedern.
Einige werfen mit Gummikugeln, andere mit Holz – wobei das Holz in Wahrheit
gepresster Hartkunststoff ist. Echtes Holz wäre zu teuer. Männer, Frauen,
Jugendliche und Kinder haben verschieden große und schwere Kugeln. Das
Mannschaftsboßeln findet zwischen September und März statt, danach beginnen
die Einzelkämpfe.
„Wir haben das Boßeln in die Wiege gelegt bekommen“, sagt Imke Kasper. Sie
ist nicht nur Fan, sondern Vorsitzende des Vereins Uplengen/Hollen im
Kreisverband Leer. Das ist der jüngste aller ostfriesischen Verbände und
wurde 1972 von ihrem Vater begründet. Geboßelt wird aber auch hier seit
ewigen Zeiten. „Es war nur schwierig, eine ordentliche Vereinsarbeit
aufzubauen, zumindest im Kreis Leer“, erklärt Tamme Boekhoff, Vorsitzender
des Kreisverbandes in Leer.
Keiner weiß so recht wie das mit dem Boßeln angefangen hat. Ethnologen
glauben zu wissen, das Werfen mit Steinen habe bei den Küstenbewohnern
militärischen Ursprung. Es könnte aber auch einfach nur sein, das die
Norddeutschen einfach Langeweile hatten – und so mit dem Steinwerfen
begannen.
Vorläufer des Straßenboßelns ist jedenfalls das Klootschießen. Das geht so:
Nach einem Anlauf springt der Werfer auf eine Rampe und schleudert eine
kleine Eisenkugel über die Weide. Wer am weitesten wirft, gewinnt. Damit
Werfer und Zuschauer nicht auf den moorigen Weiden versinken, wird diese
Sportart nur im Winter bei festgefrorenem Boden ausgeführt. Mit der Zeit
wurden die WerferInnen immer athletischer, die Sprungtechnik immer
ausgefeilter.
Es gab Helden und Idole wie Gerd Gerdes, der 1935 den Kloot 101,35 Meter
weit über die Wiese schleuderte. Erst 1985 bei dem legendären Wettkampf
zwischen dem Bären von Esens, Hans-Georg Bohlken, und Harm Henkel wurde
diese Weite übertroffen. Weil dieses Klootschießen immer spezieller wurde,
so die Theorie, hat sich irgendwann das Straßenboßeln entwickelt. Jetzt
konnte jeder die Kugel über den Asphalt schmettern. In der Kreisliga wie in
Uplengen tut das der Sohn mit dem Vater, die Tochter mit der Mutter, der
Enkel mit dem Opa. In den höheren Ligen werfen echte Könner. Hier ist
Boßeln Leistungssport.
## 25.000 Vereins-Mitglieder in Ostfriesland
Das Boßeln ist gut organisiert. Im Oldenburger Landesverband etwa werfen in
115 Vereinen rund 15.000 BoßlerInnen. In Ostfriesland sind es in 153
Vereinen über 25.000 Mitglieder. Kreis- bis Landesligen haben einen festen
Regelkatalog. Neben den Ligameisterschaften gibt es auch je einen
Landespokal. Und dann gibt es natürlich den Länderkampf zwischen
Ostfriesland und Oldenburg. Der ist Kult.
Für nationale und internationalen Meisterschaften bis hin zum legendären
Einzelkampf des „King of the Road“ in Irland, haben Boßler einen vollen
Terminkalender. Italien (Bocciati), Spanien (Tiradores), Niederlande
(Klootschieter) und Irland (Bowl Player) und Schweiz (Krugler), sind neben
Norddeutschland die größten Boßelnationen. Irland war lange Zeit die
Bastion der ultimativen Könner. Bis Frido Walter aus Pflazdorf bei Aurich
anlief. Er wurde 1996 Europaeinzelmeister der Straßenboßler gegen den bis
dahin als unschlagbar geltenden Iren Bill Daly. Noch erfolgreicher als
Frido Walter war allerdings Antje Schöttler-Gerjets. Sie gewann zweimal die
Europameisterschaft, die genau genommen eine Weltmeisterschaft ist.
An diesem Sonntag gewinnt Uplengen/Hollen und wahrt so die Chance auf den
Gewinn der Kreismeisterschaft. Imke Kasper ist kurz nach dem Sieg ihrer
Uplengener schon auf dem Sprung. Sie muss arbeiten. „Da kann ich mehr
verlässlich mitboßeln.“
„Es gibt so viele Leute, die gerne sportlich boßeln möchten, aber uns
fehlen die Betreuer“, sagt Boekhoff, Chef der Leeraner Boßler. „Die
Wochenendarbeit macht uns den ganzen Sport kaputt.“ Außerdem gehen die
Jugendlichen „am Samstag nach der Arbeit lieber in die Disco und feiern bis
Sonntag früh“, sagt Boekhoff. „Da ist kein echter Sport mehr möglich.“
14 Mar 2016
## AUTOREN
Thomas Schumacher
## TAGS
Ostfriesland
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Schwerpunkt Boykott Katar
Alkohol
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