# taz.de -- An der syrisch-türkischen Grenze: Das Zeltlager vor dem Stacheldra… | |
> Nahe der Grenze zur Türkei drängen sich die Flüchtlinge, die nicht mehr | |
> wegkommen. Die Rede ist inzwischen von einem syrischen Gaza. | |
Bild: Die Türkei hat die Grenze zu Syrien befestigt. Dahinter entsteht de fact… | |
AKÇABAğLAR/KILIS taz | Auf den ersten Blick ist es die pure Idylle. Auf | |
sanft geschwungenen grünen Hügeln wechseln sich Weingärten mit | |
Olivenhainen. Bauern beschneiden ihre Bäume, lockern die rote Erde für den | |
Frühling. Mitten durch diese Landschaft, rund einen Kilometer von hier, | |
verläuft die Grenze zu Syrien. Sie ist nur für Eingeweihte zu erkennen. | |
„Dort, wo die weißen Flecken sind, hat die Armee Gräben ausgehoben.“ Ahmed | |
S., stolzer Besitzer von 150 Olivenbäumen in Akçabağlar, holt weit aus und | |
zeigt Richtung Süden. „Bis vor zwei Tagen waren noch 120 Soldaten mit ihren | |
Panzern hier“, erzählt er. Jetzt seien sie ins benachbarte Demirışık | |
weitergezogen. | |
Die beiden Dörfer verbindet nur ein kleiner Feldweg. Knorrige Olivenbäume, | |
„über 200 Jahre alt“, wie Ahmed S. stolz sagt, säumen den Weg. Die Sicht | |
ist durch die Zweige versperrt, hinter einer scharfen Kurve stehen wir | |
plötzlich direkt vor den Kanonen türkischer Panzerhaubitzen. Auf einem | |
kleinen Hügel, unter Bäumen versteckt, steht eine Gruppe von acht Panzern, | |
alle Geschütze nach Syrien ausgerichtet. Die Besatzungen haben es sich | |
unter den Bäumen bequem gemacht. Von hier aus feuern sie seit gut einer | |
Woche ins Nachbarland hinein. „Meistens nachts, tagsüber ist es ruhig“, | |
sagt Ahmed S. | |
Die Armee soll dafür sorgen, dass die syrisch-kurdischen Milizen der YPG | |
von ihrem Siedlungsgebiet Afrin aus nicht nach Osten vorstoßen, heißt es | |
offiziell in Ankara. Die türkische Regierung will verhindern, dass eine | |
Verbindung zum kurdischen Kanton Kobani entsteht. | |
Was die Situation in diesem Gebiet, in das die türkische Artillerie | |
hineinfeuert, so vertrackt macht: Die Region ist von mehreren Gruppen | |
umkämpft. Zudem befinden sich in dem Landstreifen zwischen dem Kurdenkanton | |
Afrin und der Gegend östlich von Kilis, die vom „Islamischen Staat“ | |
kontrolliert wird, fast 100.000 Flüchtlinge. | |
Diese sind seit Anfang Februar aus Aleppo geflüchtet. Damals begann die | |
russische Luftwaffe den von syrischen Rebellen gehaltenen Teil Aleppos zu | |
bombardieren, um einen Vormarsch regimetreuer Truppen vorzubereiten. | |
## Die Schlinge um Aleppo: Wer kann, flieht | |
Seitdem versuchen Assad-Truppen die Großstadt vollständig einzukreisen. Sie | |
werden dabei von iranischen Milizen und der libanesischen Hisbollah | |
unterstützt. Viele Einwohner Aleppos fliehen, solange es noch einen Ausweg | |
aus der Stadt gibt. 80.000 bis 100.000 Menschen sind es wohl, die sich nun | |
an der türkischen Grenze stauen. Die Türkei lässt aber – im Gegensatz zu | |
früher – niemanden herein. | |
Während die Russen Aleppo bombardieren, haben die kurdischen YPG-Milizen | |
vor zehn Tagen begonnen, in die bis dahin von Anti-Assad-Rebellen | |
gehaltenen Orte wie Tel Rifaat und Azaz vorzustoßen. Sie wollen einen | |
Korridor von Afrin nach Kobani öffnen. | |
Deshalb nimmt die türkische Armee die YPG seit der Nacht vom 13. auf den | |
14. Februar von türkischer Seite aus unter Beschuss. Allerdings sei das | |
nicht der Grund, warum der Vormarsch der YPG-Milizen gestoppt ist, sagt | |
Mahmut Toğrul, der für die türkisch-kurdische Partei HDP im Parlament in | |
Ankara sitzt. Stattdessen halte sich die YPG „im Moment aus politischen | |
Gründen zurück“. Toğrul stammt aus der Großstadt Gaziantep, die der | |
syrischen Grenze am nächsten liegt. Das türkische Granatfeuer habe „nur | |
einige kurdische Dörfer zerstört, aber auf den Kampfverlauf hatte es keinen | |
Einfluss“, sagt er. | |
## Kurden stoppten auf amerikanische Bitte | |
Die Kurden auf der türkischen Seite sind über die Schritte ihrer | |
Verbündeten auf der syrischen Seite gut informiert. „Die YPG“, ist Mahmut | |
Toğrul überzeugt, „könnte die Lücke zwischen Afrin und Kobani in 3 bis 4 | |
Monaten schließen. Daran kann die Türkei mit ihrem Granatfeuer von der | |
Grenze aus gar nichts ändern. Aber die YPG werde auch Azaz „aus politischen | |
Gründen“ nicht erobern, sagt der Abgeordnete. | |
Welche politischen Gründe, das wird im Gespräch nicht offen gesagt, aber | |
angedeutet: Es sind die amerikanischen Bitten, im Moment nicht | |
weiterzumarschieren. Die USA und die YPG arbeiten seit der erfolgreichen | |
Schlacht um Kobani im Herbst 2014 im Kampf gegen den IS eng zusammen. | |
Die Türkei will aber unbedingt verhindern, dass die Kurden entlang der | |
türkisch-syrischen Grenze ein zusammenhängendes Gebiet erobern. Und deshalb | |
gibt es seit Wochen offenen Krach zwischen Ankara und Washington. | |
Und es wird noch komplizierter: Seit den russischen Angriffen auf Aleppo | |
koordiniert die YPG ihr Vorgehen auch noch mit Russland. Sie kämpft | |
nördlich von Aleppo mit russischer Luftunterstützung gegen die Anti-Assad | |
Rebellen der Freien Syrischen Armee – die wiederum von der Türkei | |
unterstützt werden. | |
Zwar kommt die Türkei ihren Verbündeten nicht mit Bodentruppen zur Hilfe, | |
aber sie kümmert sich um die verwundeten Rebellen. Anders als für die | |
geflüchteten Zivilisten aus Aleppo gehen die Grenztore am Übergang | |
Öncepinar für verwundete Kämpfer auf. Im staatlichen Krankenhaus des nahe | |
gelegenen Kilis werden die Rebellenkämpfer medizinisch versorgt. | |
## De facto eine Schutzzone | |
Einer von ihnen ist der 20-jährige Cetin aus Tel Rifaat. Seine Heimatstadt, | |
die seit mehr als drei Jahren von Rebellen kontrolliert wird, wurde am | |
13.und 14. Februar angegriffen. Von wem? Glaubt man den Aussagen von Cetin | |
und anderen verletzten Kämpfern im Krankenhaus von Kilis, arbeitete die | |
russische Luftwaffe gemeinsam mit den kurdischen YPG-Kämpfern: „Sie haben | |
uns erst einen ganzen Tag lang bombardiert, dann kam die YPG.“ | |
Der junge Kämpfer Cetin zeigt auf seinem Handy Bilder von völlig zerstörten | |
Straßenzügen seiner Heimatstadt und ein Video von den Kämpfen mit der YPG. | |
„Weil Tel Rifaat fast völlig in Trümmern liegt, mussten wir uns | |
zurückziehen.“ Verteidigt wurde die Stadt von 800 Kämpfern der | |
Al-Jabha-al-Shamieh-Brigade, die zur Freien Syrischen Armee gehört. | |
Am 15. Februar hat die kurdische YPG Tel Rifaat erobert. Seitdem ist die | |
Verbindung von Aleppo zur türkischen Grenze abgeschnitten. So ist eine | |
Enklave zwischen Azaz und der türkischen Grenze entstanden, zwischen Tel | |
Rifaat im Süden, dem Kurdenkanton Afrin im Westen und dem noch vom IS | |
kontrollierten Gebiet im Osten. Ohne dass eine Seite offen darüber redet, | |
entsteht hier so etwas wie eine De-facto-Schutzzone für syrische | |
Flüchtlinge. | |
## Mehr Lager geplant | |
Das bestätigt auch Shaheenul Haque, der Leiter des Stützpunktes der | |
Malteser im türkischen Kilis. Das deutsche Hilfswerk ist eine der | |
internationalen Organisationen, die sich von Kilis aus um die Flüchtlinge | |
auf der anderen Seite der Grenze kümmert. Shaheenul Haque ist ein | |
erfahrener Krisenmanager, der zuvor schon für die UNO in Afghanistan, im | |
Kongo und im Sudan gearbeitet hat. Er kennt sich mit Flüchtlingslagern aus | |
und ist voll des Lobes über die Arbeit der türkischen Organisationen im | |
syrischen Grenzgebiet. | |
Das türkische Rote Kreuz und andere Organisationen „arbeiten mit Hochdruck | |
daran, allen ein Dach über den Kopf zu schaffen“, sagt er. Auf dem Gebiet | |
zwischen Azaz und der Grenze ebnen Planierraupen das Gelände ein, um neue | |
Zelte und Container aufzustellen. | |
Auf einer Karte sind acht bereits existierende Lager eingezeichnet, weitere | |
sollen dazukommen. Nach und nach wird hier eine Enklave entstehen – manche | |
sprechen bereits vom syrischen Gaza –, in der die Flüchtlinge, die weder | |
die Türkei noch die EU mehr aufnehmen will, das Ende des Krieges abwarten | |
müssen. Und das kann noch Jahre dauern. | |
25 Feb 2016 | |
## AUTOREN | |
Jürgen Gottschlich | |
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