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# taz.de -- Berlinale – Perspektive Deutsches Kino: Zeigen, wer sie sind
> Junge Männer und ihre Sorgen, Öko-Psycho-Thrillerchen und ein kleines
> Romamädchen als Star: der Blick aufs Nachwuchskino.
Bild: Still aus „Agonie“.
Kosslick macht’s im fünfzehnten Jahr, und auch die von ihm ins Leben
gerufene „Perspektive Deutsches Kino“ feiert ein kleines Jubiläum. Die
Festival-Sektion mit dem Blick aufs Nachwuchskino versucht auch diesmal
wieder, das Vielversprechendste oder das Paradigmatischste aus den
Filmhochschulen in Babelsberg, Köln, Ludwigsburg und München
herauszufiltern und auch FilmemacherInnen, die es fern der Institute
probieren, nicht zu vergessen.
Bei seit Jahren fast gleichbleibend knapp 400 Einreichungen pro Jahr wurden
zwölf Arbeiten ausgewählt, abendfüllend und mittellang, Spiel- und
Dokumentarfilm. Leiterin Linda Söffker sagt: „Wenn die Zukunft des
deutschen Kinos so aussieht, dann hat es eine.“
Berichtet dann aber auch über Probleme: Der seit fünf Jahren vergebene
Förderpreis „Made In Germany“, mit dem ein Perspektive-Team finanziell bei
der Stoffentwicklung für ein neues Projekt unterstützt wird, hat noch nicht
ein Mal gefruchtet, keines der so entstandenen Drehbücher hat Produzenten
gefunden. Der Frage nach dem Warum geht kommenden Samstag ein Talk nach.
Vermutliche Antwort: Branchenundurchlässigkeit wegen
Altmänner-Seilschaften.
## Trabrennen & Ballerspiele
Da kümmert sich die diesjährige Perspektive lieber um die jungen Männer. In
gleich drei der sechs Spielfilme geht es um sie, zusammengespannt in
Zweierkonstellationen. „Meteorstraße“ von Aline Fischer zeigt den
18-jährigen Palästinenser Mohammed bei seinem Versuch, aus einer
heruntergehausten Wohnung am Berliner Flugfeldrand ein – gänzlich
unintegriertes – Leben in Deutschland zu führen und mit dem älteren Bruder
klarzukommen, der TV-Trabrennen schaut und Ballerspiele spielt.
Zugleich will Mohammed den Erwartungen des Vaters im Libanon gerecht werden
sowie seinem eigenen Motorradschrauber-Traum näherkommen. Eine strukturelle
Überforderung, der er mit Vertrauen, Demut, Trotz und Tagebuch beikommen
will, am Ende aber bei einem ernüchternden Haltgeber landet. Ein tadellos
gemachtes klassisches Drama.
Auch „Toro“ von Martin Hawie geizt nicht mit Dramatik. Piotr, genannt Toro,
will in Polen einen Boxclub aufmachen und verdient sich das Geld dafür als
Escort in Berlin. Während er mit Mittelständlerinnen schläft, versucht sein
Freund, der heroinabhängige Victor, sich als Stricher über Wasser zu
halten.
Bei Victor laufen die Dinge schlecht und schlechter, eine Spirale der
Gewalt setzt ein, Toro gerät in ihren Strudel, Verzweiflung, Wut und
unausgelebte schwule Liebe türmen sich über ihm, der finale Gewaltakt kommt
gleichermaßen überraschend wie überflüssig. Paul Wollins darstellerischen
Einsatz als „animalischer Toro“ (so die Presseinformation) unbenommen: Hier
wird zu viel Schwarzweiß-Kapital geschlagen aus harten Jungs, harten
Drogen, hartem Sex und verdrängter Homosexualität.
Letztere spielt auch in David Clay Diaz‘ „Agonie“ eine Rolle. Auch hier
geht es um Gewalt – aber weniger um deren Darstellung als um die Frage nach
ihren Gründen. Der Film hütet sich zum Glück vor einfachen Antworten.
Stoisch erzählt er in zwei parallel laufenden, sich tatsächlich nicht
einmal kreuzenden Strängen von dem 17-jährigen Alex (Proteindrink-Jünger,
Techno-Fan, Kleinbürger) und dem 24-jährigen Michael (Jura-Student, Brille,
Dufflecoat). Ganz zu Anfang erfährt man: Ein Mörder hat seine Geliebte
zerstückelt auf Wiener Mülltonnen verteilt, über das Motiv herrscht
Unklarheit.
## Coming-of-Age
Und dann sieht man diese beiden und weiß: Einer von beiden wird’s gewesen
sein. Mit einem hohen Grad an Plausibilität folgt ihnen Film durch ihr
jeweiliges Normalo-Leben, die Bilder rhythmisiert durch harte Cuts und
lange Schwarzbilder zwischen den Szenen. Motive für deviantes Verhalten
haben beide. Irgendwie.
Beim sozial Schwächeren liegen sie auf der Hand. Der Polizisten-Vater, der
Körper, der keine Muskeln ansetzen will, der scheußliche Verdacht, schwul
zu sein. Beim anderen gibt’s Milieudruck, Versagensangst, Bindungsschwäche.
Vielleicht. Der Film beobachtet feinsinnig die Coming-of-Age-Probleme
seiner Protagonisten bis zu einem unschönen, aber konsequenten Ende.
Weibliche Protagonistinnen sind stark in der Unterzahl. „Lotte“, einzige
Spielfilm-Hauptfigur, hat mit Karin Hanczewski zwar eine kraftstrotzende
Darstellerin und ein ganz nettes Rezept – Inversion der konservativen
Mutterrolle, Frauen in Trinkwettkämpfen –, geht aber trotzdem nicht auf. Zu
klischiert die Bilder der Berufsjugendlichkeit, zu ewiggleich Berlin als
Weltpartyhauptstadt, zu öd die Tochter, der die wiedergefundene Mutter erst
schlechtes Vorbild und dann Läuterungsobjekt wird.
Das Porträt der Künstlerin Oda Jaune dann ein zunächst spannender Versuch,
das Werden von Kunst via Kamera einzufangen. Aber Oda Jaune, aufstrebende
It-Girl-Malerin und junge Immendorf-Witwe, kann nicht arbeiten, wenn die
Kamera läuft. Aber bezaubernd erzählen, das kann sie, und Männer bezaubert
über sich erzählen lassen auch. Und so bezirzt lässt die Regisseurin ihren
Film schleichend zur Hommage werden: distanzlos, ölig.
Als Dokumentation deutlich gelungener ist „Valentina“, in dem ein
zehnjähriges Roma-Mädchen die Filmemacher mitnimmt in ihren Alltag. Es ist
großartig, mit wie viel Witz und Erzähllust diese Valentina von ihrer
zwölfköpfigen Familie berichtet, die am Stadtrand von Skopje in einem Slum
haust, durch illegales Betteln ihr Leben fristet und zusammengehalten wird
durch schiere physische Nähe und viel Oral History.
Eine transparente Verhandlung der Bedingungen, unter denen hier Elend
Filmthema wurde, sowie eine umwerfende Protagonistin sind das schlichte
Rezept für diesen Film, den Valentina selbst auf den Punkt bringt: „Sie
sind zu uns armen Leuten gekommen, um zu sehen, wer wir sind und um es
anderen zu zeigen.“ Man sollte es sich zeigen lassen.
Ein fahlweiß beleuchteter Sci-Fi-Solitär mit Arthouse-Applomb ist mit „Wir
sind die Flut“ zu sehen. Ein Physikstudentenpärchen will der ausbleibenden
Tide in einem Küstendorf nachgehen und stößt auf verschwundene Kinder,
verstummte Eltern und die eigene Vergangenheit. Eine semiotisch etwas
überfrachtete Parabel aufs Erwachsenwerden, ein ziemlich deutsches
Öko-Psycho-Thrillerchen. Aber eben auch ein Manifest aufs Jungsein und
Machen. Der einzige Spielfilm der Perspektive, der versucht, für die eigene
Generation eine Perspektive zu entwickeln.
12.02. bis 21.02., in den Kinos Cinemaxx 1, 3 und 5, Colosseum 1 und in
einigen kleinen Kinos
12 Feb 2016
## AUTOREN
Kirsten Riesselmann
## TAGS
Schwerpunkt Berlinale
Perspektive Deutsches Kino
Coming-of-Age
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Trash
Joel und Ethan Coen
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