| # taz.de -- „Unzumutbares Psychospiel“: Das Eltern-Lehrer-Gericht | |
| > Bei den Lernentwicklungsgesprächen geht es zu sehr um die Schwächen, | |
| > kritisieren Eltern. Zu Zielvereinbarungen darf kein Kind gezwungen werden | |
| Bild: Die Lernentwicklungsgespräche für Schüler sind umstritten. | |
| HAMBURG taz | Vergangene Woche wurden in Hamburg wieder die jährlichen | |
| „Lernentwicklungsgespräche“ abgehalten, bei denen Lehrer und Kind im | |
| Beisein der Eltern über die Schule sprechen. Diese 2009 unter Schwarz-Grün | |
| eingeführte Neuerung, kurz LEG genannt, hat auch Kritiker. Nicht groß | |
| überraschend war es Schulreform-Gegner Walter Scheuerl, der zu Beginn der | |
| Woche klarstellte, dass es bei den Lernentwicklungsgeprächen „[1][keinen | |
| Zwang zu Gehirnwäsche und Unterschriften von Kindern und Jugendlichen]“ | |
| geben könne. Es hätten sich Eltern gemeldet, die die zum Ende eines LEG zu | |
| unterzeichnende Vereinbarung als „unzumutbares Psychospiel“ empfänden. | |
| Den Sprecher der Schulbehörde, Peter Albrecht, kann das nicht erschüttern. | |
| „Verbindliche Ziel- und Leistungsvereinbarungen werden empfohlen“, erklärt | |
| er auf Nachfrage. Sie ermöglichten es, das volle Potenzial der Schüler zu | |
| entfalten. | |
| Wissenschaftlich evaluiert wurden diese Vereinbarungen zwischen Kind und | |
| Schule nicht. Und nicht nur Walter Scheuerl, auch kritische Pädagogen wie | |
| [2][Kurt Edler] lehnen sie ab. „Wenn man ein Kind schriftlich zu etwas | |
| verpflichtet, ist es ein Vertrag“, sagt der frühere Grünen-Chef. Der | |
| Gesetzgeber habe aber gute Gründe, ein Kind nicht für vertragsfähig zu | |
| erklären. „Was ist denn, wenn sich der Eifer nicht entwickelt?“ Kinder in | |
| der Vorpubertät wollten alles richtig machen und betrachteten dies mit | |
| heiligem Ernst. „Für ein Kind ist eine Unterschrift etwas Unheimliches.“ | |
| Die taz sprach mit acht Eltern über ihre Erfahrungen, und alle finden die | |
| Sache „ambivalent“. Sein neunjähriger Sohn sei aufgeregt gewesen, berichtet | |
| ein Vater. Der Lehrer war nett und habe viele Stärken des Kindes | |
| aufgezählt. Eine Unterschrift war nicht nötig. Doch nun muss der Junge zu | |
| Hause einen Zettel ausfüllen: „1. Das kann ich schon gut, 2. Hier muss ich | |
| noch üben, 3. Das nehme ich mir fürs nächste Halbjahr vor.“ Eine Frage zu | |
| Stärken, zwei zu Schwächen. | |
| Schwächen müssen vom Kind selbst benannt werden, in Gegenwart von Eltern | |
| und den Lehrern. Hier gebe es einen „[3][Macht-Problematik]“, hatte Edler | |
| schon vor zwei Jahren in einem Papier gewarnt. Es wundere ihn, dass den | |
| reformerischen Akteuren der Blick darauf verstellt sei. Für die Schüler | |
| gebe es kein Entrinnen. Sie müssten sich vor einem „freundlichen | |
| Erwachsenen-Gericht“ verantworten, statt mit dem Lehrer auch mal | |
| Geheimnisse zu haben. | |
| Jaana Rasmussen sieht das ähnlich. „Ich fand die LEGs anfangs | |
| fortschrittlich, weil man die Kinder mit einbindet“, berichtet die Mutter. | |
| „In der Realität ist das so: Das Kind sitzt zwei Autoritätspersonen | |
| gegenüber.“ Das Kind habe keine Macht, keine Chance auf einen Dialog auf | |
| Augenhöhe. Der Lehrer gebe letztlich die Noten im Zeugnis. | |
| ## „Selbstbezichtigungscharakter“ | |
| „Die Kinder mögen gar nicht reingehen in so ein Gespräch“, sagt Mutter | |
| Ulrike Dockhorn. Die Gespräche hätten „Selbstbezichtungscharakter“ und | |
| würden für schwächere Schüler zum Spießrutenlauf. „Die Mitsprache für | |
| Schüler ist im System Schule nicht angelegt“, sagt die Unternehmerin. „Sie | |
| können nicht über Inhalte bestimmen, sondern höchstens, wie schnell sie | |
| Zettel abarbeiten. Von daher ist ein Gespräch über scheinbar selbst | |
| gesteckte Lernziele manipulativ.“ | |
| „Weil das Ergebnis die Zielvereinbarungen sind, sind die Lehrer bemüht, | |
| etwas Negatives über das Kind zu finden, das dann verbesserungswürdig ist“, | |
| berichtet eine Mutter, die anonym bleiben möchte. Häufig werde deshalb 80 | |
| Prozent der Zeit über belanglose Schwächen gesprochen. Doch bei einem | |
| Mädchen, bei dem es nichts zu kritisieren gab, sei das Gespräch im Tribunal | |
| geendet. „Sie ist weinend zusammengebrochen.“ | |
| „Es gibt Gespräche, die werden so gut geführt, dass die Kinder wachsen“, | |
| berichtet die Elternvertreterin Sigrun Mast. „Es kommt darauf an, wie | |
| erfahren die Lehrer sind.“ Doch leider gebe es auch die, die schief laufen. | |
| „Die Lehrer und Kinder sind unter Druck, die Eltern hören zu“, beschreibt | |
| sie das Szenario. „Und das Kind denkt, dass die Eltern auf Seite der Lehrer | |
| sind.“ Der Druck zur Unterschrift tue dann sein Übriges. | |
| Lernentwicklungsgespräche seien im Prinzip gut, sagt Michael | |
| Schulte-Markwort, Leiter der Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Uniklinik | |
| Eppendorf. „Auch bei uns auf der Station sind die Kinder bei den Übergaben | |
| dabei und hören, was wir sagen.“ Er sei aber gegen Verträge mit Kindern, | |
| sagt Schulte-Markwort. „Ich treffe Absprachen mit Kindern, aber das | |
| geschieht dann mündlich.“ | |
| 5 Feb 2016 | |
| ## LINKS | |
| [1] http://www.wir-wollen-lernen.de/wp-content/uploads/2014/09/20150205_Lernent… | |
| [2] http://www.edlerhh.de/wp-content/uploads/2014/02/KE-Machtreflexion-ein-Zwis… | |
| [3] http://www.edlerhh.de/wp-content/uploads/2014/02/KE-Machtreflexion-ein-Zwis… | |
| ## AUTOREN | |
| Kaija Kutter | |
| ## TAGS | |
| Hamburger Schule | |
| Lehrer | |
| Reformpädagogik | |
| Unterbringung von Geflüchteten | |
| Schwerpunkt Polizeikontrollen in Hamburg | |
| Schule | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Flüchtlings-Hilfe in Nord-Deutschland: Kiel will es für Hamburg schaffen | |
| Schleswig-Holstein hat fast 8.000 freie Plätze in der Erstaufnahme – und | |
| prüft, ob dort Flüchtlinge aus Hamburg wohnen können. | |
| Mobbing bei Hamburger Polizei: Keiner, der mit den Wölfen heult | |
| Der Polizist Fatih Sarikaya hat sechs Abmahnungen und eine fristlose | |
| Kündigung kassiert – zu Unrecht, stellte das Arbeitsgericht fest. | |
| Streit um Lehrerbildung: Schulsenator spart Burnout-Prophylaxe ein | |
| Junge Lehrer werden ab 2016 nicht mehr für den Austausch mit | |
| Berufseinsteigern freigestellt. Schulverbände protestieren. |