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# taz.de -- Die Wahrheit: Weihnachtsschorf am Arsch
> Kurz vor den Festtagen stellt sich stets dieses erstaunliche Gefühl der
> Gelassenheit ein. Rein gar nichts kann einen aus der Ruhe bringen …
Bild: Mit hängender Rolltreppenvisage und Kaufrauschtüten ziehen sie durch Ko…
Früher oder später überkommt mich gegen Ende jeden Jahres eine umfassende
Weihnachtsgleichgültigkeit, die über eine bloße Besinnlichkeitsverweigerung
weit hinausgeht. Das bedeutet nicht, dass mir Weihnachten plötzlich
gleichgültig wäre. Das war es schon immer – oder doch wenigstens, seit ich
1979 tatsächlich dieses Wohnmobil von Ken™ geschenkt bekommen und von Stund
an den Zustand wunschloser Bedürfnislosigkeit erreicht hatte. Ich brauche
nichts mehr.
Es ist nur so, dass meine segensreiche Gleichgültigkeit meistens von
protoweihnachtlichem Quatsch getriggert wird. Eine ärgerliche Petitesse
genügt, irgendein von Kunstschnee überzuckerter Schorf am Arsch der Zeit.
Die Wirkung aber dürfte mit einer Trepanation der Schädeldecke vergleichbar
sein, bei der ein Bohrloch das Hirn vom üblichen Druck entlastet und den
Betroffenen dauerhaft in das bonbonbunte Scheißegalien eines Fünfjährigen
versetzt.
Diesmal war es zufällig das Doppelweihnachtsalbum „Weihnachten“ von Helene
Fischer, so prall mit Weihnachtsliedern gefüllt wie ein gestrandeter
Pottwal mit blähenden Fäulnisgasen. Die bloße Ankündigung dieses Produktes
irgendwann im Herbst genügte, um meine Gleichgültigkeit für dieses Jahr zu
wecken.
Seitdem breitet sie sich in konzentrischen Kreisen aus und erfasst zunächst
mein privates Umfeld. Die Tochter besteht darauf, mit einer Unterhose auf
dem Kopf in den Kindergarten zu gehen? Sie gehe in Frieden. Die lärmende
Dauerbaustelle direkt gegenüber? Besser, sie geben sich richtig Mühe beim
Hausbau, dann hält’s länger. Klimakuddelmuddel mit Sonnenbrand im November
und Stechmücken im Dezember? Tja, dann motte ich mein Moped eben doch
wieder aus.
Was mich sonst zur Weißglut treibt, verbreitet eine wohlige Wärme. Wieder
wechselt ein SUV, ohne zu blinken, die Spur? Wahrscheinlich mit einem
wichtigen Telefonat beschäftigt, der Arme. Zusammen mit meiner Festplatte
geht ein Text verloren, an dem ich seit einem Jahr gearbeitet habe? Gut,
dann kann ich ihn neu schreiben und diesmal besser formulieren. Kaum steht
der Weihnachtsbaum in vollem Ornat, kippt er auch schon um und nimmt das
Regal mit? Na ja, ich wollte eigentlich schon immer mal in Panik einen
Eimer Wasser über meine Bücher schütten und den dampfenden Brei
anschließend in den Müll schippen.
Irgendwann greift mein Empörungsmuskelkater als metastasierender Stoizismus
auch auf drängendere Probleme über. Zumindest nehme ich an, dass sie
drängender sind, ich kann das inzwischen nicht mehr beurteilen. In einem
trüben Sammelbecken für völkische Fastfaschisten ist noch Platz für einen
nationalchauvinistischen Rassenlehrer mit verbrieftem Rückkehrrecht in den
Schuldienst als Oberstudienrat? Weckt mich, wenn er als Kanzler vereidigt
wird. Oder, besser, lasst mich schlafen.
22 Dec 2015
## AUTOREN
Arno Frank
## TAGS
Weihnachten
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Familie
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Religion
Akif Pirinçci
Universität
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