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# taz.de -- Ländliche Zeitung von Frauen in Indien: Gegen alle Widerstände
> Frauen aus marginalisierten Gruppen machen in Indien die feministische
> Zeitung „Khabar Lahariya“. Sie berichten über Themen, die andere
> tabuisieren.
Bild: Rund 30.000 Menschen lesen „Khabar Lahariya“: Dorfbewohner in Nordind…
VARANASI/DELHI taz | Die Treppen, über die Hindu-Pilger in Varanasi in den
Ganges steigen, sind die erste Station an Rizwana Tabassums Tag. Die
21-Jährige steht ganz oben auf der Treppe und ruft laut zu einem der
Putzmänner: „Ey, Bruder, komm doch mal her.“ Der Mann guckt verdutzt,
unterbricht das Fegen und kommt herüber.
„Wann waren die Freiwilligen von der NGO hier, die sauber machen wollten?“,
fragt Tabassum. „Die waren nur einen Tag hier, haben Fotos von sich gemacht
und sind wieder gefahren“, antwortet der Mann. Tabassum stellt ihm noch ein
paar Fragen, schnell hintereinander weg, er antwortet. Dann ist sie
zufrieden: „Bruder, ich halte dich von der Arbeit ab.“
„Ich will wissen, ob die Freiwilligen hier die Jobs der Putzleute
gefährden“, erklärt Tabassum. Sie ist Lokaljournalistin und solche
Geschichten gehören zu ihrem Alltag: Wie wirkt sich die Politik der Reichen
auf das Leben der Armen aus? Die Regierung hat in der Stadt öffentliche
Toiletten bauen lassen, aber meist sind sie abgeschlossen. Die
Stromausfälle sind weniger geworden, aber nicht in den Armenvierteln.
Der Premierminister hat im September im Stadtzentrum eine Kundgebung
abgehalten, dafür wurden Straßenhändler eine Woche lang von den
Hauptstraßen vertrieben. Nach den Interviews am Ganges will Tabassum noch
zum Stadion, wo Varanasi und Gazipur im Finale der indischen Liga für
ländliches Cricket antreten und dann bei der Stadtverwaltung die Termine
für eine Demonstration am nächsten Tag abfragen. Sie wird den ganzen Tag
unterwegs sein.
## 40 Journalistinnen beschäftigt
Tabassum schreibt für eine der kleinsten Zeitungen Indiens, aber auch für
eine der außergewöhnlichsten – die Wochenzeitung Khabar Lahariya.
„Nachrichtenwellen“ auf Deutsch. 2002 gründete die feministische NGO
Nirantar sie als Alphabetisierungsprojekt ausschließlich für Frauen aus
benachteiligten Gemeinschaften in den berüchtigt konservativen nördlichen
Bundesländern Uttar Pradesh und Bihar.
Inzwischen beschäftigt sie 40 Journalistinnen, darunter Dalits – als
„unberührbar“ diskriminierte, kastenlose Hindus –, Frauen aus niederen
Kasten und Musliminnen. Die Journalistinnen verteilen die Auflage von 6.000
Exemplaren persönlich in hunderten Dörfern. Nach eigenen Angaben wird sie
von rund 30.000 Menschen gelesen. Aus einem Emanzipationsprojekt ist eine
Redaktion geworden, die dafür bekannt ist, die örtlichen Behörden genau zu
beobachten.
Den ganzen Tag unterwegs zu sein, ist für Frauen im ländlichen Indien keine
Selbstverständlichkeit. Auf dem Land in Indien gibt es wenige
JournalistInnen und die meisten sind Männer. [1][Für eine Studie von
Nirantar], die 2014 die Arbeitsbedingungen von Journalistinnen im
ländlichen Indien untersuchte, konnten die Forscher nur 20 Frauen finden –
unter 450 Millionen Menschen in vier Bundesländern.
Die Journalistinnen von Khabar Lahariya sind deshalb mehrfach exponiert:
Als Frauen haben sie ihren gesellschaftlichen Platz – den Haushalt –
verlassen und sind in die Öffentlichkeit getreten. Als Angehörige niederer
Kasten nehmen sie nicht mehr nur das Handeln der Mächtigen hin, sondern
hinterfragen es. Nachbarn erzählen oft, sie seien Prostituierte, viele
AmtsträgerInnen ignorieren ihre Anfragen, beschimpfen oder belästigen sie.
## Der lächelnde Brahmane
Varanasi ist der Wahlkreis von Indiens Premierminister Narendra Modi,
dessen Partei für eine Bevorzugung von Hindus aus höheren Kasten eintritt.
In seinem Wahlkreisbüro sitzt ein lächelnder Brahmane und empfängt
BittstellerInnen und JournalistInnen. Tabassum ist mit ihrem Kopftuch als
Muslimin sofort zu erkennen, spätestens wenn sie ihren Namen sagt, besteht
für InderInnen Gewissheit. Tabassum möchte mit dem Bürochef über die
Entwicklungsprojekte reden, die Modi versprochen hat. Seine Ablehnung ihr
gegenüber ist deutlich: Er ignoriert sie und beantwortet ihre Fragen nur,
wenn ich, als ausländischer Journalist, sie mit etwas anderen Worten
wiederhole.
Tabassum hat einen der einfachsten Werdegänge unter den Reporterinnen von
Khabar Lahariya. Sie hat Abitur gemacht und Kommunikationswissenschaften
studiert. Der Job bei der Zeitung ist ihr erster und bringt ihr monatlich
9.000 Rupien (120 Euro) ein. Viele der anderen kommen aus sehr ländlichen
Gegenden, haben nur wenig Schulbildung, manche wurden als Kinder
verheiratet.
In [2][einer Videoreihe der Zeitung auf YouTube] stellen sich einige Frauen
vor. Ihre Erzählungen ähneln sich: Sie hätten sich nie vorstellen können,
Journalistinnen zu werden, der Job ermögliche ihnen, häufiger das Haus zu
verlassen und sich in der Öffentlichkeit aufzuhalten. Sie hätten früher nie
den Mut gehabt, Regierungsbeamte anzusprechen, geschweige denn zu befragen.
„Mit dem Job habe ich auch ein Einkommen“, [3][sagt die Journalistin
Susheela] und lacht. „Da verändert sich das Leben automatisch.“ Sie
erzählen aber auch von der Herausforderung, ihre Familien oder Männer zu
überzeugen, sie überhaupt arbeiten zu lassen. Oft gaben diese vor, welche
Kleidung sie zu tragen hatten oder dass sie vor Sonnenuntergang wieder zu
Hause sein müssten.
Gegen alle Widerstände machen die Journalistinnen von Khabar Lahariya
mutige Geschichten. Sie berichten, wenn Frauen gequält werden, weil ihre
Männer unzufrieden sind mit ihren Brautgaben. Sie berichten über häusliche
Gewalt und Vergewaltigungen, deren Opfer sehr häufig Frauen aus
Minderheiten sind. Sie berichten über Korruption auf den niedrigsten Ebenen
der Regierung, über Ernteausfälle, Bauernsuizide und Krankheitsausbrüche.
Sie berichten aber auch über die neuesten Bollywood-Filme, über die
Freizeit von Frauen auf dem Land, von Festen und Feiern.
Nach zwölf Jahren haben sie sich so den Respekt von LeserInnen, BeamtInnen
und anderen Medien erarbeitet. Projektdokumente von Khabar Lahariya zeugen
davon, dass ein niederer Beamte einmal anbot, die gesamte Auflage der
Zeitung aufzukaufen, weil sie über Veruntreuung durch ihn berichtetet.
Anderen Redaktionen führt Khabar Lahariya immer wieder vor, wie relevant
die Berichterstattung zu ländlichen Themen sein kann – und dass es trotz
niedriger Schulbildung auch dort ein Publikum gibt, das an Journalismus
interessiert ist.
Im Sommer dieses Jahres berichteten überregionale Medien, als die
Journalistinnen von Khabar Lahariya zwei Monate lang von einem unbekannten
Anrufer belästigt wurden. Die zunächst desinteressierte Polizei sah sich am
Ende gezwungen, [4][den Verdächtigen zu ermitteln].
## Neue Aufgabe: Fundraising
In einem kleinen Raum im zweiten Stock eines Ladenkomplexes in Delhi
befindet sich das Hauptstadtbüro von Khabar Lahariya. Hier arbeitet Disha
Mullick als Koordinatorin der Redaktion. Vor zwei Jahren hat sich die
Zeitung von der NGO Nirantar abgespalten, weil sie zu groß wurde, um nur
ein Teil einer Organisation zu sein, sagt Mullick. Sie und ihre zwei
Kolleginnen in Delhi haben früher Weiterbildungen organisiert, zu den
Grundlagen journalistischer Arbeit und zu Computertechnik, aber auch
Artikel aus den Regionalsprachen übersetzt. Mit der Abspaltung ist nun eine
neue Aufgabe hinzugekommen: Fundraising.
„Früher haben wir Geld bekommen, weil wir eine Zeitung machten, um etwas
anderes zu erreichen – Bildung oder Emanzipation. Jetzt geht es nur darum,
eine Zeitung zu machen“, sagt Mullick. Jährlich braucht Khabar Lahariya
rund 15 Millionen Rupien (200.000 Euro), die durch die Zeitungsverkäufe
nicht einmal annähernd abgedeckt werden.
Das Hauptstadtbüro ist deshalb auch zum PR-Büro geworden und spricht
bewusst die urbane Bevölkerung an, die Geld spenden könnte. [5][Ein Blog
erzählt Anekdoten] aus der Redaktion und auf der Website erscheinen die
Berichte inzwischen [6][auch auf Englisch]. [7][Ein Crowdfunding zu Beginn
des Jahres] brachte knapp 350.000 Rupien (4.700 Euro) ein. Zwar gibt es
auch Gelder von Stiftungen, doch die Zeitung befindet sich seitdem in einer
ständigen Rettungskampagne.
Am späten Abend kehrt Tabassum nach Hause zurück. Sie bahnt sich ihren Weg
in einem Vorort Varanasis durch stockdüstere Gassen, zwischen rohen
Ziegelbauten. Heute Abend gibt es Strom, wenn auch keine
Straßenbeleuchtung, und die Weber aus ihrer Nachbarschaft lassen ihre
knatternden, motorisierten Webstühle auch über Nacht laufen. Tabassums
Eltern sind auch Weber. Die Familie wohnt am Rande der Siedlung, in einem
unverputzten Haus direkt neben einer Ackerfläche. „Salam Aleikum“, grüßt
Tabassum ihre Mutter, die an den Webstühlen die Fäden einhängt.
Auf dem Dach des Gebäudes hat Tabassum als erwachsene Frau ein eigenes
Zimmer. Von der Zeitung hat sie einen Laptop gestellt bekommen, mit dem sie
alle Artikel der neuesten Ausgabe ins Netz hebt. Die Texte sind auf Hindi,
und um die Schrift ohne Fehler zu übertragen, muss Tabassum jeden einzelnen
Text bearbeiten. Ihre Hände fliegen über die Tastatur, kopieren, fügen ein,
bearbeiten das Bild, korrigieren Sonderlaute, speichern. „Das geht jetzt
noch ein paar Stunden so“, sagt sie. An diesem Abend wird ihr Zimmer zur
digitalen Zentrale von Khabar Lahariya.
23 Dec 2015
## LINKS
[1] http://khabarlahariya.in/docs/Zile%20ki%20Hulchul%20web.pdf
[2] http://www.youtube.com/channel/UCbvNC1RcIdlM2Kzn-QnjFng/
[3] http://youtu.be/uIcuhJMb1Jw
[4] http://scroll.in/article/756664/man-who-harassed-up-women-journalists-for-m…
[5] http://khabarlahariya.blogspot.in/
[6] http://khabarlahariya.org/
[7] http://www.ketto.org/raghukarnad
## AUTOREN
Lalon Sander
## TAGS
Indien
Feminismus
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Indien
Amnesty International
Crowdfunding
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