# taz.de -- Die CDU in Thüringen: Das bedrohte Biotop | |
> Mit ihrer „Politik der offenen Grenzen“ stößt Angela Merkel auf Unbehag… | |
> in der eigenen Partei. An der CDU-Basis in Thüringen grummelt es. | |
Bild: Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow und Angela Merkel | |
Bad Liebenstein taz | Marcus Malsch legt bei der Fahrt durch seinen | |
Wahlkreis eine Pause ein und lenkt den Wagen in ein Gewerbegebiet. Viel | |
Zeit hat er nicht, aber für eine Wurst müsste es reichen. Denn was ist eine | |
Reise über den Thüringer Wald ohne Rostbratwurst? Er wäre ein schlechter | |
Landtagsabgeordneter, wenn er nicht auf die Tradition seiner Heimat | |
hinweisen würde. | |
Malsch grüßt die Wirtin, klemmt die Wurst in das Brötchen und beißt | |
vorsichtig hinein. Rauch zieht vom Grill herüber. „Thüringer Landstolz“ | |
steht auf der Markise wie eine Überschrift. Oder wie ein trotziger Slogan – | |
ein Stück Gewissheit jedenfalls in einer Zeit, in der Unvorstellbares | |
geschieht. | |
„Wenn mich jemand vor einem Jahr gefragt hätte, ob wir die Grenzkontrollen | |
wieder einführen sollten – ich hätte ihn für verrückt erklärt“, sagt | |
Malsch. Und ein Ministerpräsident, der auf einem Bahnhof „Inschallah!“ | |
ruft, gehört auch zu diesen Seltsamkeiten. Mit diesem Wort hatte Bodo | |
Ramelow im September syrische Flüchtlinge im thüringischen Saalfeld begrüßt | |
und hinzugefügt: „Das ist der schönste Tag meines Lebens!“ Malsch ist gut | |
einsneunzig groß, ein freundlicher Hüne in Jeans, kein Mann für Grobheiten. | |
Schlimm genug, dass der Ministerpräsident nach 24 Jahren nicht mehr von der | |
CDU kommt, sondern von der Linkspartei. Aber der „schönste Tag“? | |
Da wirkt es fast wieder gewöhnlich, dass in einem Schloss mit Fachwerk und | |
Zinnen in Malschs Wahlkreis 200 Asylsuchende untergebracht sind – in einem | |
Dorf, das kaum mehr Einwohner hat. „Null Infrastruktur“, sagt Malsch und | |
erzählt, dass der CDU-Landrat im September die Listen mit den Flüchtlingen | |
in die Hand bekam, als der erste Bus schon unterwegs war. Wenig später | |
verfügt er einen Aufnahmestopp. Und Marcus Malsch, vor einem Jahr als | |
junger CDU-Abgeordneter in den Landtag eingezogen, wird zum | |
Merkel-Kritiker. Dabei soll er sich doch um die Land- und Forstwirtschaft | |
kümmern. | |
Der Senf für die Bratwurst kommt aus Erfurt. Malsch nimmt es zufrieden zur | |
Kenntnis, dann lenkt er zurück in den Thüringer Wald. Die Straße nass, die | |
Täler dunkel und in den Kuppen hängt der Nebel. Eine spätherbstliche, sehr | |
deutsche Landschaft – mit ihren schieferverkleideten Häuschen, Tüftlern und | |
kleinen Fabriken. Ein klassisches CDU-Biotop. Eins, das höchst gefährdet | |
ist. | |
## Vier Thüringer haben den Brief unterschrieben | |
Daher hat der 37-Jährige gemeinsam mit 33 anderen CDU-Landes- und | |
Kommunalpolitikern aus ganz Deutschland im Oktober die Kanzlerin in einem | |
offenen Brief angegriffen. Die „Politik der offenen Grenzen“ widerspreche | |
dem CDU-Programm. Ein großer Teil der CDU-Mitglieder und -Wähler fühle sich | |
von der Bundesregierung nicht mehr vertreten, klagten die Unterzeichner. Um | |
die Krise zu lösen, forderten sie die Rückkehr zu deutschem und | |
europäischem Recht und beschleunigte Abschiebungen. | |
Malsch scheint jede Kehre in diesem Gebirge zu kennen. Er macht Tempo, als | |
müsste er zu einem Feuerwehreinsatz. Es ist bisher selten vorgekommen, dass | |
in der CDU die Basis so offen die Parteiführung angreift. Schnell war von | |
einem „Brandbrief“ die Rede. Malsch hat als einer von vier Thüringern | |
unterschrieben. Warum? Der Brief gebe seine Meinung wieder, „aber eben auch | |
einen Großteil der Meinungen derer, mit denen ich zusammenarbeite“. Malsch, | |
der gelernte Bankkaufmann, ist nicht nur Landtagsabgeordneter, er ist auch | |
stellvertretender Bürgermeister, Kreistagsmitglied und im Sportverein. | |
„Müssen wir denn erst AfD wählen?“, fragen die Leute und erzählen, dass … | |
schon in Erfurt bei Björn Höcke waren. Immerhin, manche hatten schnell | |
genug von den Parolen des Thüringer AfD-Chefs. Trotzdem – „es ist so, dass | |
uns die Felle davonschwimmen.“ Malsch könnte lange reden über Autobahnen | |
und Schienen, über Mittelstand, Tourismus, über das Lutherjahr 2017 – es | |
gibt viele Felle, die die CDU im Laufe der Jahre gesammelt hat. Zwecklos. | |
Das Thema Flüchtlinge, sagt Malsch, überlagert alles. | |
Es geht in die Bergstadt Ruhla hinein. Malsch zeigt auf „Texas“, so nennen | |
sie hier ein Viertel, wo 60 Flüchtlinge untergebracht sind. Alles in allem | |
akzeptabel. Doch im Oktober kam es in einer Wohnung im Nachbarort zwischen | |
zwei Flüchtlingen zu einer Messerstecherei. Einer der beiden Afghanen | |
starb, der andere verletzte bei seiner Flucht einen Einheimischen. Das | |
treibe die Leute um. | |
Und auf wen zeigen sie? Auf Ramelow mit seinem „Inschallah“? Auf Merkel mit | |
ihrem „Wir schaffen das“? „Du bist mein Politiker!“, rufen sie. Malsch … | |
haftbar gemacht für Merkels Politik – auf der Straße, bei der Sitzung des | |
CDU-Ortsverbands, im Sportverein. Und die nächste Diskussion steht schon | |
an. | |
## Statt Abriss Flüchtlingsunterkunft | |
Inzwischen ist Malsch in seinem Heimatort Bad Liebenstein angekommen. | |
Schmale Straßen, viel Schiefer, ein leerstehender Möbelmarkt. Vor der | |
Grundschule stoppt er. Wo soll die Stadt demnächst 150 Flüchtlinge | |
unterbringen? Neben der Grundschule? In einer Turnhalle? Im Möbelmarkt? „Es | |
gibt keinen, der nicht Angst hat, wenn in der Nachbarschaft 150 bis 200 | |
Flüchtlinge einziehen“, fasst Malsch zusammen. Die Stimmung sei angespannt. | |
„Wenn sich irgendwo ein Handwerker am Gebäude zu schaffen macht, argwöhnen | |
die Menschen, dass bald Flüchtlinge einziehen.“ | |
Oben auf dem Berg, umgeben von Buchen, steht das Schloss Altenstein. Nein, | |
nicht im Schloss selbst, aber in den Ferienbungalows nebenan sollen die | |
Asylsuchenden unterkommen. Die DDR-Bauten sollten verschwinden, nun werden | |
sie wieder zur Herberge. Nicht die schlechteste Lösung: | |
Gemeinschaftsunterkunft, Parklandschaft und Abstand zu den Einheimischen. | |
Mehr ist in Thüringen nicht zu haben. Die Gardinen hängen noch. | |
Malsch wendet. Es ist ein schönes Reich, durch das er geführt hat: mit | |
Rennsteig, Deutschlands ältestem Höhenweg, Lutherdenkmal und Bratwurst. | |
Einst regierte hier der Herzog von Sachsen-Meiningen, später die | |
„Thüringenpartei“, wie sich die CDU hier nennt. Seit einem Jahr ist das | |
Geschichte. Und seitdem Tag für Tag Hunderte von Flüchtlingen im Land | |
verteilt werden müssen, steht für die CDU noch mehr auf dem Spiel. Dabei | |
sind die Werte stabil. Nach einer Umfrage im Oktober bleibt die Partei mit | |
35,5 Prozent stärkste Kraft Im Land. Die AfD liegt im Freistaat derzeit bei | |
12 Prozent. | |
Malsch hat die Zustände in seiner Heimat beschrieben, zu Angela Merkel hat | |
er sich nicht weiter geäußert. Das bleibt am Abend dem | |
CDU-Ehrenvorsitzenden des Ortsverbands, Kurt Kellner, vorbehalten. Im | |
„Kaiserhof“, dem traditionsreichsten Hotel im Ort, haben sich unter einem | |
mächtigen Lüster ein halbes Dutzend Christdemokraten versammelt – eine | |
Zahnärztin, ein Landwirt, ein Angestellter, ein Handwerker, ein Lehrer und | |
eben der 82 Jahre alte Nestor. Kellner, aktiv in der Senioren-Union, | |
ergreift bald das Wort und skizziert die weltpolitische Lage. | |
## Lob für den großen Europäer Helmut Kohl | |
Er wirkt dabei in seiner Art so aufgeräumt, aber auch dozierend wie Hans | |
Jochen Vogel, wobei er dessen Bruder Bernhard, dem langjährigen | |
CDU-Ministerpräsidenten von Thüringen, natürlich näher steht, was er nicht | |
versäumt zu erwähnen. Marcus Malsch, der Direktkandidat aus dem Wahlkreis | |
Wartburg III, der sich gerade anschickt, eine Schinkenplatte zu vertilgen, | |
wirkt zwischen all den Honoratioren plötzlich wie ein Konfirmand. Verstärkt | |
wird dieses Ambiente durch die Bronzebüsten von Goethe und Schiller und dem | |
historischen Silberbesteck an der Wand. | |
Auf den Brief an die Parteivorsitzende angesprochen, den Malsch | |
unterzeichnet hat, versichert Kellner: „Er hat meine volle Unterstützung.“ | |
Ein „Hilferuf“ sei er gewesen, wirft die Zahnärztin ein. Zunächst würdigt | |
Kellner aber Merkels Krisendiplomatie, wünscht sich von den Flüchtlingen | |
etwas mehr Demut und rechnet kurz vor, dass man bei 800.000 Asylsuchenden | |
mindestens 6.000 Lehrer einstellen müsse, wolle man die Schulpflicht | |
durchsetzen. Eine dreistellige Millionensumme wäre das monatlich. „Hat man | |
sich das alles überlegt?“ | |
Kellner wiegt sorgenvoll das Haupt. Der Satz „Wir schaffen das“ mag in der | |
Situation durchaus verständlich gewesen sein. Aber jetzt? Er wolle nicht | |
die Flüchtlinge in einen Zusammenhang mit den Anschlägen von Paris bringen, | |
versichert Kellner. Dennoch: „Wir müssen genau kontrollieren, wer nach | |
Deutschland kommt. Und“, Kellner hebt die Hand, „es muss eine Grenze geben, | |
damit es überschaubar bleibt.“ | |
Mit dem Lob auf den Europäer Helmut Kohl rückt Kellner allmählich von der | |
Kanzlerin ab. Kohl habe die Interessen der kleinen EU-Staaten gewahrt. „Das | |
sehe ich heute nicht so.“ Kurt Kellner, pensionierter Lehrer und | |
langjähriger CDU-Kommunalpolitiker, kennt die politische Rede, weiß um die | |
Wirkung von Zwischentönen, Andeutungen – und Lob. „Ich schätze sehr den | |
Bundesfinanzminister“, betont er. Wolfgang Schäuble genieße große | |
Zustimmung. „Die CDU hat noch Führungsqualität.“ Sagt’sund schaut ins R… | |
wo die Parteifreunde nachdenklich zuhören. „Warum sollte man sich auf eine | |
Person versteifen?“ Für Angela Merkel wird an diesem Abend keiner mehr das | |
Wort ergreifen, für Horst Seehofer und Bayern schon. | |
„Dreifach ist der Schritt der Zeit: Zögernd kommt die Zukunft hergezogen, | |
Pfeilschnell ist das Jetzt entflohen, Ewig still steht die Vergangenheit.“ | |
Das Schillerwort an der Wand bleibt unbeachtet. Stattdessen legt Kurt | |
Kellner Marcus Malsch die Hand auf die Schulter und gibt seinem Zögling | |
einen prosaischen Tipp: „Eines muss man können in der Politik: Man muss was | |
aussitzen können, ohne dass einem die Düse geht.“ Malsch nickt leise. | |
Dieser Rat hätte auch von Angela Merkel stammen können. | |
6 Dec 2015 | |
## AUTOREN | |
Thomas Gerlach | |
## TAGS | |
Schwerpunkt AfD | |
Schwerpunkt Flucht | |
Bodo Ramelow | |
Kommunalpolitik | |
CDU | |
Schwerpunkt Rassismus | |
Schwerpunkt Rechter Terror | |
Schwerpunkt Flucht | |
Flüchtlinge | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Konservativer Kreis in Sachsen-Anhalt: Bei der CDU geht's um die Wurst | |
In Sachsen-Anhalt gründet die CDU einen Konservativen Kreis, der zu einer | |
offiziellen Parteigliederung werden soll. Seine Mitglieder essen: Wurst. | |
Rassistische Rede von AfD-Politiker: AfD-Vorstand rügt Höcke | |
Björn Höcke hat in einer Rede rassistische Hirngespinste über Afrikaner | |
verbreitet. Das ging selbst dem Vorstand der AfD zu weit. Der kritisierte | |
Höcke deutlich. | |
Thüringens VS nach dem NSU-Debakel: „Wir sind nicht James Bond“ | |
Mit Stephan Kramer bekommt der thüringische Verfassungsschutz einen neuen | |
Chef und einen neuen Auftrag - mehr Transparenz. | |
Merkels Flüchtlingspolitik: Kritik aus der eigenen Partei | |
Sie sorgen sich „um die Zukunft unseres Landes und Europas“. Deshalb haben | |
CDU-Politiker einen Brief an die Kanzlerin geschrieben. | |
Bodo Ramelow über Flüchtlings-Soli: „Eine neue nationale Aufgabe“ | |
Statt für den Osten will Thüringens Ministerpräsident den „Soli“ künftig | |
für die Versorgung und Integration von Flüchtlingen einsetzen. |