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# taz.de -- Die „arktische Route“: Der kälteste Fluchtweg der Welt
> Den Grenzübergang zwischen Russland und Norwegen müssen Flüchtlinge per
> Fahrrad passieren. Der Andrang hat stark zugenommen.
Bild: Mit Rad im Schnee: Flüchtlinge am Grenzposten Nikel.
Moskau/Stockholm taz | Der erste Schnee ist gefallen, die Tage sind nur
noch fünf Stunden lang, am 27. November beginnt die Polarnacht. Doch dem
Verkehr auf der „arktischen“ Fluchtroute hat das bislang keinen Abbruch
getan, im Gegenteil: Mehr als 3.000 Asylsuchende sind in diesem Jahr über
die einzige Übergangsstelle an der streng bewachten Grenze zu Russland nach
Norwegen gekommen – allein rund 2.000 in den vergangenen drei Wochen. Am
Dienstag gab es mit 199 Flüchtlingen einen neuen Tagesrekord.
Im Februar, als die ersten sechs Flüchtlinge aus Syrien vom russischen
Nikel ins norwegische Storskog rollten, war die Route rund 400 Kilometer
nördlich des Polarkreises noch ein Geheimtipp. Norwegen hieß die seltenen
Gäste willkommen und brachte sie vor Ort im besten Hotel unter. Ein paar
Tage Erholung, dann ging es mit dem Flugzeug weiter nach Oslo, wo die
Asylformalitäten erledigt wurden. Die Gäste priesen in den sozialen Medien
Norwegens hohen Norden.
Im Mai kamen schon erheblich mehr. Nicht nur Syrer, auch Afghanen und
Iraker. Die schnellste, sicherste und günstigste Verbindung aus dem Nahen
Osten in den Schengenraum führt von Beirut über Moskau nach Murmansk an der
Barentssee und weiter bis Nikel. Die 4.000 Kilometer sind in weniger als
zwei Tagen zu bewältigen. Bis Murmansk gibt es eine Flugverbindung, von
dort geht es im Taxi 300 Kilometer weiter in den karelischen Grenzort.
Neben dem kleinen Abfertigungsgebäude am Grenzposten hat der norwegische
Zoll jetzt ein Zelt aufgebaut. Dahinter türmt sich ein Berg von Fahrrädern.
Denn die Grenze darf hier nicht zu Fuß überquert werden – so haben es
Moskau und Oslo vereinbart, als dieser Übergang 2003 feierlich eröffnet
wurde. Wer nicht auf mindestens zwei Rädern am russischen Kontrollposten
ankommt, wird abgewiesen. Nur für Kleinkinder und Schwangere wird
inzwischen eine Ausnahme gemacht.
## Wucherpreise für rostige Räder
In Nikel werden mittlerweile Wucherpreise für rostige Drahtesel verlangt.
Wer noch nicht sicher radeln kann, der stößt sich mit den Füßen ab. In
Storskog sammelt die Polizei die Fahrräder aus Nikel wieder ein. Sie landen
in einem Container und werden entsorgt, sie entsprechen nicht den
norwegischen Standards. Manche fabrikneuen Gefährte sind noch verpackt, wo
es das Fahren nicht behindert.
Im Oktober schickte Norwegen erstmals 150 Asylsuchende wieder zurück. Sie
hatten in Russland schon längere Zeit mit einer Aufenthaltserlaubnis
gelebt. Auch Syrer in Russland nutzen die Chance, in einer wirtlicheren
Umgebung Fuß zu fassen. „Sie fliehen nicht vor Krieg, Armut oder Hunger.
Sie haben einen sicheren Hafen“, meint Norwegens Justizminister.
Mittlerweile werden die Ankömmlinge gleich am Grenzort registriert und
nicht mehr nach Oslo geflogen. Und auch in Nikel hat sich etwas verändert:
Russische Grenzer lassen täglich nur noch ein paar Dutzend Flüchtlinge
durch, und es gibt Gerüchte, dass Moskau die Durchreisenden schon im 100
Kilometer von der Grenze entfernten Murmansk stoppen will. Die norwegische
Ausländerbehörde twitterte am Wochenende unter dem Hashtag #arctic_route,
Afghanen ohne Asylgrund riskierten ihre sofortige Abschiebung nach Kabul.
Außerdem kopiert man das dänische Beispiel: Anzeigen mit entsprechenden
Warnungen sollen in russischen Zeitungen geschaltet werden.
30.000 bis 50.000 Asylsuchende erwartet Norwegen in diesem Jahr – drei- bis
fünfmal so viele wie 2014. Dass die rechtspopulistische Finanzministerin
Siv Jensen die Kosten vor allem durch Kürzungen an Entwicklungshilfe und
Integrationsleistungen von Flüchtlingen decken will, hat heftige Kritik
ausgelöst. „Inhuman“ und „unverantwortlich“ sei das, meint die
Hilfsorganisation Norsk Folkehjelp. Das reiche Norwegen „schickt die
Rechnung für die Aufnahme von Flüchtlingen an die Allerärmsten und riskiert
damit, dass sich noch mehr auf den Weg nach Europa machen“, kritisiert die
Flüchtlingsvereinigung NOAS.
4 Nov 2015
## AUTOREN
Reinhard Wolff
Klaus-Helge Donath
## TAGS
Norwegen
Russland
Schwerpunkt Flucht
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